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Zitiervorschlag

Was es braucht, damit Österreichs Kinderbetreuung nicht mehr im letzten Drittel ist

Martha Schultz

 

Ausgangspunkt: Österreichs Kinderbetreuung im Vergleich

Österreichs Kinderbetreuungssystem liegt im Vergleich mit anderen EU-Staaten zuzüglich Norwegen und Schweiz im unteren Drittel (Rang 20 von 29). Dies stellten wir im Zuge einer Studie[1] fest, bei der wir einen Performance-Vergleich angestellt haben, der verschiedene Indikatoren berücksichtigt. Diese umfassen eine weite Bandbreite an Kennzahlen, die die Breite abdecken soll, auf die die Kinderbetreuung Einfluss entfaltet. Denn Kinderbetreuung wirkt sich, als allererste Bildungsstation im Leben eines Menschen (deshalb bietet es sich auch an, von „frühkindlicher Bildung“ denn „Kinderbetreuung“ zu sprechen), umfassend multidimensional und kurz- wie langfristig auf das einzelne Kind, seine Familie und die Gesellschaft aus. Eingeflossen in die Betrachtung sind daher Bildungsbenchmarks (PISA und PIRLS), Kinderbetreuungsquoten, Gender Pay Gap, Erwerbsquoten der Eltern (insbesondere der Mütter) und von Jugendlichen, Fertilitätsrate, Kinderarmutsquote sowie öffentliche Ausgaben für Kinderbetreuung.

Auffallend ist, dass in Österreich die Betreuungsquoten der unter- und über-Dreijährigen signifikant unterschiedlich sind. Während das alte Barcelona-Ziel für die über-Dreijährigen, eine Betreuungsquote über 90 Prozent, in den letzten Jahren durchwegs, wenn nicht erreicht, dann zumindest nur knapp unterboten wurde, liegt das alte Ziel für die unter-Dreijährigen, eine Betreuungsquote über 33 Prozent, in weiter Ferne. 2022 waren 91,9 Prozent der über-Dreijährigen, aber nur 23 Prozent der unter-Dreijährigen zumindest für eine Stunde in der Woche in formaler Kinderbetreuung.[2] Damit ist unabsehbar, wann – und, schlimmstenfalls, ob überhaupt jemals – das Ende 2022 aktualisierte Ziel einer Betreuungsquote über 45 Prozent bei den unter-Dreijährigen erreicht wird.

Strukturelle Gründe

Die hohe Betreuungsquote der über-Dreijährigen lässt sich mitunter mit der seit September 2010 österreichweit geltenden Kindergartenpflicht für Kinder über fünf Jahre erklären. Dennoch gibt es keine öffentliche Versorgungsgarantie beziehungsweise keinen Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz. Förderungen und Kostenbeiträge sind bundeslandspezifisch, sodass die Inanspruchnahme von Kinderbetreuung Eltern nichts oder auch mehrere 100 Euro monatlich kosten kann. Einzig im Pflichtjahr ist der Besuch, nicht aber etwa Mittagessen, österreichweit uniform kostenlos. Außerdem bestehen in Österreich teils eklatante Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern sowohl im tatsächlichen Betreuungsangebot, bei dessen Qualität und Umfang, als auch bei den Betreuungsquoten selbst. Beispielsweise herrscht ein deutliches Stadt-Land- und Ost-West-Gefälle. Je urbaner und östlicher, desto besser ist das Kinderbetreuungsangebot. Wien, als größte österreichische Stadt und bevölkerungsreichstes sowie -dichtestes Bundesland, ist hier Spitzenreiter.

Der föderalen Struktur Österreichs geschuldet, ist das österreichische Kinderbetreuungssystem stark fragmentiert, als dass die Kinderbetreuung Ländersache in Gesetzgebung und Vollzug ist. Zur Folge hat das uneinheitliche Ausgestaltungen und Vorgaben, etwa was die Qualifikationsanforderungen der Pädagogen oder Qualitätsstandards der Einrichtungen betrifft. Auch ist die Finanzierungsstruktur unübersichtlich. Ebenso schwanken die Gehälter der Pädagogen von Bundesland zu Bundesland. Bereits all diese systematischen Differenzen wirken sich deutlich auf die regionalen Unterschiede in Sachen Kinderbetreuung in Österreich aus.

Der einzig rechtlich verbindliche Weg, österreichweit einheitliche Regelungen zu schaffen, sind Bund-Länder-Vereinbarungen nach Artikel 15a Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG). Auf einer solchen beruht das österreichweite Kindergartenpflichtjahr für Fünfjährige. Die jüngste Vereinbarung stammt aus dem Jahr 2022. Größtes Manko dieses Arrangements bleibt dennoch, dass eine derartige Vereinbarung den wohlwollenden Willen der Bundesländer erfordert. Ein Konsens, mit dem zehn Parteien (Bund und neun Bundesländer) gleichermaßen leben können, ist naturgemäß eine ungeheure Herausforderung.

Kulturelle Aspekte

Doch das beste Kinderbetreuungsangebot bringt nichts, wenn es nicht wahrgenommen wird. Hier spielen die kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine nicht minder gewichtige Rolle. Wenn beispielsweise ein Elternteil zuhause bleibt, um sich um die Kinder zu kümmern, dann besteht logischerweise entweder kein oder zumindest nur wenig Bedarf an Kinderbetreuung. Hier ist vor allem die Einstellung zur Familie, insbesondere zur Kindererziehung an sich, beachtlich.

In Österreich herrscht ein vergleichsweise konservatives Familienrollenbild vor. Beispielsweise stieß die Aussage, dass es die Aufgabe der Männer sei, Geld zu verdienen, die der Frauen, sich um Haushalt und Familie zu kümmern, laut der „European Value Survey 2017“ nur bei 29,6 Prozent auf Ablehnung. In Deutschland lehnten diese 13,5 Prozent ab, in Schweden 5,1 Prozent, in Dänemark 5,7 Prozent.[3] Auch fürchten 47,3 Prozent der Menschen in Österreich, dass Kinder leiden, wenn ihre Mutter arbeitet (34,1 Prozent in Deutschland, 15,3 Prozent in Schweden, 9,0 Prozent in Dänemark).[4]

Gerade der Vergleich mit den nordischen Ländern zeigt jedenfalls eine positive Korrelation zwischen progressiveren Familienrollenbildern und Betreuungsquoten sowie auch der Qualität der Kinderbetreuung. Denn die nordischen Länder haben nicht nur durchwegs die progressivsten Einstellungen zur Familie in Europa, sondern schnitten in unserem Performance-Vergleich auch am besten ab. Nimmt man also an, dass hinter diesem Zusammenhang ebenfalls eine Kausalbeziehung steckt, kann man in Österreich durchaus von einer Skepsis gegenüber Kinderbetreuung sprechen, die sich in diesen Werten und Einstellungen zeigt.

Selbst wenn Eltern diese Ansichten nicht teilen, so stehen sie in Österreich vor der Herausforderung, dass Kinderbetreuungseinrichtungen in Österreich vielerorts nur halbtags geöffnet und somit mit einer Vollzeittätigkeit kaum vereinbar sind. 2022 gaben 39,5 Prozent aller teilzeitbeschäftigten Frauen Betreuungspflichten als Grund an, nicht in Vollzeit zu arbeiten.[5] Es ist somit zugleich auch von einer mitunter deutlichen Unterversorgung mit bedarfsgerechtem Kinderbetreuungsangebot auszugehen. Hier herrscht ebenso ein Stadt-Land- sowie Ost-West-Gefälle, wobei es in Wien wiederum das umfangreichste Angebot gibt.

Bedeutung von guter Kinderbetreuung

Da Studien eindeutig belegen, dass Kinderbetreuung sich entscheidend positiv auf den weiteren Bildungsweg, Gesundheit und spätere Einkommen, aber auch auf Eltern und deren Beziehung zu ihren Kindern auswirken kann, sollte unsere 2021 erschienene Studie zum erschreckenden Zustand des österreichischen Kinderbetreuungswesens ein Weckruf an Politik und Gesellschaft sein, um Österreichs Nachwuchs nicht die Zukunft zu verbauen. Wichtig bleibt zu betonen, dass Elementarpädagogik keineswegs bedeutet, dass die entscheidende Rolle der Eltern in der Erziehung und Fürsorge vergessen werden sollte. Denn Kinderbetreuung sollte als sinnvolle Ergänzung und Unterstützung gesehen werden, nicht aber als Ersatz.

Ergriffene Maßnahmen

Mittlerweile besteht durchwegs bei fast allen politischen Akteuren und Couleurs eine grundsätzliche Einigkeit über den dringenden Handlungsbedarf. Ein Ergebnis dieser Anstrengungen ist die zuvor genannte Bund-Länder-Vereinbarung, die unter anderem zum Ziel hat, bis zum Kindergartenjahr 2026/27 insbesondere das Elementarbildungsangebot österreichweit auszubauen und dieses besser an die beruflichen Anforderungen der Eltern anzupassen (etwa Flexibilisierung und Ausweitung der Öffnungszeiten). Weiters sollen die Qualifikation von Pädagogen vorangetrieben und vereinheitlicht sowie Sprachförderungen forciert werden. 2024 folgen zudem steuerliche Erleichterungen, die unter anderem Steuerfreibeträge für Kinderbetreuungszuschüsse des Arbeitgebers erhöhen und die Öffnung von Betriebskindergärten für betriebsfremde Kinder incentivieren sollen. Gerade letzteres hilft unmittelbar, das für die breite Masse zugängliche Kinderbetreuungsangebot auszuweiten, indem auf bereits bestehende Strukturen zurückgegriffen wird. Hinzukommt die Zusage der österreichischen Bundesregierung, zusätzliche 4,5 Milliarden Euro für den breitflächigen österreichweiten Ausbau der Elementarpädagogik zur Verfügung zu stellen. Das ist auch bitter notwendig, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die öffentliche Hand in Österreich 2019 bloß 0,5 Prozent des BIP in die Kinderbetreuung steckte. In Deutschland lag mit 0,8 Prozent im OECD-Schnitt (EU-Schnitt waren 0,7 Prozent). Führend sind die nordischen Länder und Frankreich (ganz vorne ist Island mit 1,8 Prozent).[6]

Was noch zu tun ist

Für die Beantwortung der Frage, was getan werden kann, damit das österreichische Kinderbetreuungswesen nicht mehr abschlagen im letzten Drittel innerhalb der EU liegt, haben wir uns in unserer Studie Beispiele aus Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland angeschaut, die allesamt besser abschneiden als Österreich. Deutlich wurde dabei die Notwendigkeit der Vereinheitlichung und Vereinfachung des Systems. Entscheidend dabei ist die Aufstellung eines kohärenten, österreichweiten Bildungsplans, der bereits mit der frühkindlichen Bildung in den Kinderbetreuungseinrichtungen beginnt. Ebenso sind die Ausweitung und Flexibilisierung, aber auch die Sicherstellung der Qualität (hier ist an die Qualifikation der Pädagogen, deren adäquate Entlohnung, die allgemeine gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung sowie das Betreuungsverhältnis zu denken) des Angebots wichtig. Ferner braucht es sozialgestaffelte Modelle, die vor allem sozialschwächeren Haushalten unter die Arme greift, zumal die Elementarpädagogik ein wesentlicher Schlüssel für die soziale Mobilität von Kindern ist. Denkbar ist außerdem ein Rechtsanspruch auf qualitätsvolle frühkindliche Bildung, auch wenn sich derzeit, ob der derzeitigen Finanzierungs- und Verantwortlichkeitsverteilung sowie der damit verbundenen zusätzlichen Verantwortung, gerade die Gemeinden dagegen sträuben.

Es sind also viele Stellschrauben, die gerichtet werden müssen, um die Kinderbetreuung in Österreich voranzubringen. Neben angebotsseitigen Verbesserungen spielen nicht nur komplexe rechtliche und politische Überlegungen, sondern auch kulturelle Überzeugungen der Bevölkerung hinein, die regional stark unterschiedlich ausgeprägt sind. All das lässt sich nicht von heute auf morgen anpacken, sondern ist ein langer Weg, der Geduld wie auch ganzheitliches Denken und Handeln verlangt.

Endnoten

[1] https://www.juliusraabstiftung.at/fruehkindliche-bildung-wir-sind-dafuer/

[2] Eurostat, 2023.

[3] European Value Survey 2017

[4] European Value Survey 2017

[5] https://www.statistik.at/fileadmin/user_upload/Arbeitsmarktstatistiken-2022_Web-barrierefrei.pdf S. 5. (abgerufen am 21.09.2023)

[6] OECD, 2023.

Autorin

Martha Schultz ist Präsidentin der Julius Raab Stiftung, Vizepräsidentin der Wirtschaftskammer Österreich und Familienunternehmerin. Als unternehmerisch, sozial und politisch engagierte Mutter und Großmutter weiß sie um die Bedeutung von ausgezeichneter Elementarpädagogik, nicht nur um den Weg der jungen Generation in eine erfolgreiche und gute Zukunft zu ebnen, sondern auch in der Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Daher ist die frühkindliche Bildung in ihrer unternehmerischen, sozialen und politischen Arbeit schon seit jeher eine Herzensangelegenheit.

Die Julius Raab Stiftung ist ein Think-Tank mit Sitz in Wien und gehört zu den Gründungsmitgliedern des Verbands für gemeinnütziges Stiften. Ihrem unternehmerischen Selbstverständnis folgend, sieht sie sich auch als „Do-Tank“. Sie will neue politische Ideen entwickeln, die Österreich und Europa nach vorne bringen. Dabei orientieren sich die Denkansätze an den Grundwerten der Freiheit, Verantwortung, Solidarität, Chancengerechtigkeit und Ehrlichkeit. Die Elementarpädagogik, als Grundstein für die nächsten Generationen, vereint diese Werte wie kein anderes Thema. Die Julius Raab Stiftung sieht es daher als ihre Pflicht an, Österreichs frühkindliches Bildungswesen zum Vorreiter zu machen.