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Zitiervorschlag

Kinder mit Migrationshintergrund in Kitas

Uta Maria Sandhop

 

Familien mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Migrationskontext erfordern unterschiedliche Einbindung durch das Kita–Team. Ich möchte hier besonders auf Familien mit Fluchterfahrung eingehen.

Erwartungen an die Situation – Kita

In den Kindertagesstätten kann bereits Erfahrung im Umgang mit Eltern aus einem anderen Kulturkreis vorliegen, evtl. ist pädagogisches Personal selbst aus diesem Kontext, und es gibt bereits weitere Kinder. Es kann aber auch eine völlig neue Erfahrung sein und an dieser Stelle wird den Pädagogen bereits deutlich, dass es ein erheblicher Mehraufwand sein kann, die Elternarbeit zu gestalten, die Erziehungspatenschaft zu stärken und die Kinder und Eltern durch den Kita-Alltag zu begleiten. Der Betreuungsschlüssel bleibt unverändert, und die Dokumentation sowie Umsetzung der Bildungspläne können die Pädagogen stark herausfordern, besonders hohes Engagement ist hier gefragt. Sei es durch starke Empathie und Geduld, aber auch Weiterbildungsinteresse und dem Erwartungsdruck der Eltern standzuhalten.

Für die Eltern des Kindes ist es häufig eine ebenso angespannte Zeit, vielleicht gibt es Vorbehalte gegenüber einer Fremdbetreuung, Erwartungen an die Pädagogen, die Geschlechterrolle zu stärken oder einzufordern, es kann auch als Verwahrung verstanden werden und Eltern könnten eine Beteiligung strikt ablehnen. Dennoch nehmen Eltern auch die Kita-Betreuung an und nutzen die Zeit für eigene Integrationsaufgaben wie Deutsch-Kurs-Besuche, stehen den neu gewonnenen sozialen Kontakten wohlwollend gegenüber und suchen selbst zu anderen Eltern Anschluss, möglich ist auch, dass Eltern in ähnlicher Situation gemeinsam die Kita besuchen und sich in ihrer eigenen Community wiederfinden. Nicht selten entdecken sie auch die Chancen des ersten Bildungsabschnittes ihres Kindes und räumen der Entwicklungsmöglichkeit einen wichtigen Platz ein.

Dilemmata

Sprachkenntnisse und Bildungsstand der Eltern haben ebenso Einfluss wie die psychische Gesundheit der Eltern und die Entwicklung eigener Perspektiven in Deutschland. Aber auch das Verständnis der elterlichen Verantwortung und der eigenen Identität verbunden mit dem persönlichen Rollenverständnis fordern pädagogische Fachkräfte heraus. Interkulturelle sensible Herangehensweisen sind für die Pädagogen ebenso wichtig wie der Mut zur Einbringung von Perspektivwechsel aber auch die Kompetenz, die Eltern zu empowern und geduldig Regeln und Abläufe, aber auch Aufgaben der Eltern zu erörtern und einzufordern. Die ersten sozialen Kontakte der Kinder mit anderen Kindern aus Deutschland und anderen Ländern finden vermutlich im Kindergarten statt und die Bildungsbiografie startet. Der Schlüssel zum Ankommen und Wohlfühlen, auch um altersentsprechend zu explorieren, ist die Sprache und dementsprechend sind geeignete Sprachangebote notwendig, sowie die Erkenntnis, Literacy zu fördern. Eigene Sprachkenntnisse und Sprachkompetenzen aus der Familie werden durch die eigene Muttersprache eingebracht. Eine Identität mit dem eigenen Geschlecht wird sicher durch die Herkunftsfamilie geprägt und gelebt. Diese gilt es nicht abzugewöhnen oder zu ignorieren, sondern mit einzubeziehen und Chancen für Gleichberechtigung und Teilhabe zu ermöglichen.

In der folgenden Aufzählung werden mögliche Dilemmata der Kinder kurz genannt, da die Kinder teilweise zwei Welten erleben:

Medienkompetenz, Sprachverständnis, Rollenverständnis, Geschlechteridentität, Werte der Familie vs. Deutschland, Motivation für Bildung, Demokratieverständnis, Interesse an Beteiligung, Respekt, Religion.

Während meiner Beratungstätigkeit habe ich leider auch erlebt, dass Kinder häufig Übersetzungsleistungen übernehmen und auch die Kulturmittlung leisten müssen. Diese Dolmetscherfunktion ist häufig dem Mangel an Dolmetschern geschuldet, aber auch dem zu geringen Sprachverständnis der Eltern sowie schambehaftete Themen, für die es gerade keine geeigneten Dolmetscher gibt. Die Kinder sind dann bei Ärzten dabei, übersetzen Elterngespräche und schwierige Inhalte, denen sie entwicklungsmäßig oft nicht gewachsen sind und eine Überforderung darstellt.

Diese Schwere ist den Eltern häufig nicht bewusst.

Wie stark die Chancen in der Kita wahrgenommen werden, wird auch die weitere Bildungslaufbahn (Realschul- oder Gymnasialabschluss) bestimmen. Der mögliche Selbstausschluss, auch Diskriminierungserfahrungen führen zu verminderter Bildungsteilhabe.[1]

Der Anspruch auf Teilhabe und Zugehörigkeit wird mit höherem Bildungsabschluss auch stärker eingefordert als mit geringerem Abschluss.[2]

Hier stellt sich die Frage, wie aufmerksam sind die Pädagogen, auf die Chancen im weitesten Sinne zu Teilhabe, Umgang mit und Diskriminierung allgemein mit der Überprüfung der Situation einzugehen.[3]

Als ein großes Spannungsfeld wird auch die Zugehörigkeit innerhalb der eigenen Communitiy, aber auch zur Aufnahmegesellschaft wahrgenommen, welches die Kinder letztlich erleben und die Ambivalenz ausgleichen müssen bzw. einen Umgang damit finden. Die Familien der Kinder werden auch als risikobereit, hoch motiviert, aber auch vermehrt konservativ erlebt.[4]

„Häufig wird gesagt, die Kinder würden in zwei Welten leben. Vielleicht ist es präziser, von zwei Sphären in einer Welt zu sprechen. In der inneren Sphäre, also in ihrem Zuhause, erleben sie den Traditionalismus aus einer anderen Kultur, aber auch sehr enge soziale Bindungen. Auch das ist typisch: In der Fremde rücken Menschen enger zusammen. … In beiden Sphären erleben sie verschiedene Formen des richtigen Lebens, verschiedene Regeln und ganz unterschiedliche soziale Beziehungen. Es handelt sich im wörtlichen und metaphorischen Sinne um zwei Sprachen, bei denen sich die Heranwachsenden als Sprecher:innen und Übersetzer:innen zugleich üben müssen. Das ist in der Regel aber unproblematisch. Kinder und Jugendliche schaffen das spielend. Aber die Kinder sehen sich darüber hinaus mit widersprüchlichen Erwartungen aus diesen Sphären konfrontiert.“[5]

Hier stellt sich erneut die Frage, inwieweit Kitas und Pädagogen auf diese komplexe Situation vorbereitet sind, und Ressourcen haben, die erhöhten Bedarfe zu beantworten und wie sehr sind die Pädagogen auch interkulturell kompetent und belastbar, diese Herausforderungen zu leisten, welche Unterstützung erhalten sie von Leitung, Träger, Gesellschaft und den Rahmenbedingungen der Bildungsrichtlinien der Länder?

Für Kinder ist hier die Loyalität die große Aufgabe in ihrem Alltag in der Kita. In der Kita-Umgebung wird vielleicht Interesse suggeriert und nachgefragt, wie feiert Ihr oder wie ist das bei Euch? Das Kind kann hier spüren, ich gehöre nicht zu der restlichen Gruppe, oder ich muss mich anpassen, es wird Interesse aber auch Skepsis oder auch Anpassung gespiegelt. Dieses aus den Widersprüchen entstandene Dilemma muss bewältigt werden und bedarf einer hohen Sensibilität der Kita mit den Pädagogen.[6]

Generell lässt sich feststellen, dass in der Kita Weichen gestellt werden, die sich im weiteren Bildungsweg auswirken werden. Das deutsche Bildungssystem wird hier sicher auf seine Gerechtigkeit geprüft und nicht allen Kindern mit ihren Grundbedingungen gerecht werden. Bildungschancen bleiben offen und möglicherweise ungenutzt. Aufgrund des dynamischen Wandels des Anteils an Kindern mit Migrationsanteil trägt das derzeitige Bildungssystem dem keine Rechnung. Zukünftig sollte es mehr Berücksichtigung finden, wie hoch der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund ist. In den Familien der Kinder sind außerdem auch die Zukunftsfragen der Familien spürbar, ob sie im Alter zurückkehren oder bleiben, das wirkt sich auch auf die Stabilität der Familiensysteme aus, denn die ältere Generation ist häufig enger an die Kernfamilie angebunden und hat Aufgaben übernommen. [7]

Bildungsteilhabe ist sicher auch lokal unterschiedlich möglich. Ländlich geprägte Regionen bieten hier sicher andere und begrenzte Teilhabe[8] als es in Städten bzw. Großstädten möglich ist. Unterstützend ist sicher auch eine gute Anbindung der Familie an Sozialberatungen mit Spezialisierung auf Flucht/Migration/Integration.

Fazit

Welche Empfehlungen lassen sich ableiten? Rahmenbedingungen in den Kitaeinrichtungen sollten überdacht werden, dies fängt bei dem Betreuungsschlüssel an und auch bei der Thematik Qualitätssicherung müssen aktuelle Standards angepasst werden wie z.B. Weiterbildungen des pädagogischen Personals zu Fragen von interkultureller Kompetenz und Dialog mit Eltern mit Migrationshintergrund, Stärkung der Kompetenzen im Bereich Literacy und Empowerment der Eltern.

Ebenso wären die Fähigkeiten, Eltern zu partizipieren und elterliche Verantwortung zu stärken, Selbstreflexion und Wahrnehmung unterschiedlicher kultureller Welten der Kinder zu untermauern. Möglicherweise sind innerhalb der Elternschaft auch Familien, die sich erfolgreich beteiligen und einbringen in Alltag und Bildungshistorie ihres eigenen Kindes, um sie als Role Models für andere neu hinzugekommene Familien zu gewinnen.

Im Gemeinwesen sollten Strukturen vorhanden sein, die Familien zusätzlich beraten und einbinden. Sei es durch Sozialberatung in den Regelstrukturen (abhängig vom rechtlichen Status der Familie z.B. Asylbewerber im AsylbLG, anerkannte Flüchtlinge im SGB II), aber auch die lokal zuständige Beratungsstelle des Jugendamtes bei offenen Fragen und Anliegen der Familie bei Erziehungsberatungsbedarf.

Was brauchen Kinder, unabhängig ob sie Migrationshintergrund haben oder nicht, um gesund aufwachsen zu können? Freunde, Familie, Perspektiven, eine Heimat. Die Hürden, welche Familien mit Migrationshintergrund überwinden müssen, um gleiche Chancen auf Teilhabe zu erreichen, sind häufig sehr hoch und werden als schwer überwindbar erlebt.

Erkennen die Pädagogen vor Ort die Differenz der unterschiedlichen Lebenswelten und Chancen, ist bereits viel gewonnen. Dieses Bewusstsein braucht es, um weitere Schritte im Sinne der Kinder zu gehen.

Endnoten

[1] Vgl.: El-Mafaalani, A.: Das Integrationsparadox.Verlag. Köln. Kiepenheuer & Witsch, 2020.

[2] Vgl.: El-Mafaalani, A.: Das Integrationsparadox.Verlag. Köln. Kiepenheuer & Witsch, 2020.

[3] Vgl.: El-Mafaalani, A.: Sphärendiskrepanz und Erwartungsdilemma. Migrationsspezifische Ambivalenzen sozialer Mobilität. In: Zeitschrift für Pädagogik 6/2017.

[4] Vgl.: El-Mafaalani, A.: Sphärendiskrepanz und Erwartungsdilemma. Migrationsspezifische Ambivalenzen sozialer Mobilität. In: Zeitschrift für Pädagogik 6/2017.

[5] El-Mafaalani, A.: Das Integrationsparadox. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2020 aus: Badawia, T.: Der dritte Stuhl. Eine Grounded Theory-Studie zum Umgang bildungserfolgreicher Immigrantenjugendlicher mit kultureller Differenz. Frankfurt a. M.: Iko-Verlag Berlin. 2009.

[6] Vgl.: Agnew, V. (Hrsg.): Diaspora, Memory and Identity. A search for home, totonto: university of Toronto Press, 2005./Anisef, P.; Kilbride, K. M.: managing Two Worlds. The experiences and concerns of immigrant youth in Ontario. Toronto, 2003.

[7] Vgl.: Dietzel-Papakyriakou, M.: Altern in der Migration. Die Arbeitsmigranten vor dem Dilemma: zurückkehren oder bleiben? Stuttgart: Springer Verlag. 1993.

[8] Vgl.: El-Mafaalani, A.; Kemper, T.: Bildungsteilhabe geflüchteter Kinder und Jugendlicher im regionalen Vergleich. Quantitative Annäherungen an ein neues Forschungsfeld. In: Zeitschrift für Flüchtlingsforschung(Z`Flucht), 2017, Jg. 2, Heft 2.

Literaturverzeichnis

Agnew, V. (Hrsg.): Diaspora, Memory and Identity. A search for home, totonto: university of Toronto Press, 2005./Anisef, P.; Kilbride, K. M.: managing Two Worlds. The experiences and concerns of immigrant youth in Ontario. Toronto, 2003.

Dietzel-Papakyriakou, M.: Altern in der Migration. Die Arbeitsmigranten vor dem Dilemma: zurückkehren oder bleiben? Stuttgart: Springer Verlag. 1993.

El-Mafaalani, A.: Sphärendiskrepanz und Erwartungsdilemma. Migrationsspezifische Ambivalenzen sozialer Mobilität. In: Zeitschrift für Pädagogik 6/2017.

El-Mafaalani, A.; Kemper, T.: Bildungsteilhabe geflüchteter Kinder und Jugendlicher im regionalen Vergleich. Quantitative Annäherungen an ein neues Forschungsfeld. In: Zeitschrift für Flüchtlingsforschung(Z`Flucht), 2017, Jg. 2, Heft 2.

El-Mafaalani, A.: Das Integrationsparadox.Verlag. Köln. Kiepenheuer & Witsch, 2020.

El-Mafaalani, A.: Das Integrationsparadox. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2020 aus: Badawia, T.: Der dritte Stuhl. Eine Grounded Theory-Studie zum Umgang bildungserfolgreicher Immigrantenjugendlicher mit kultureller Differenz. Frankfurt a. M.: Iko-Verlag Berlin. 2009.

Autorin

Uta Maria Sandhop, M.A. Soziale Arbeit, arbeitet seit 2016 in der Flüchtlingshilfe. Im Auftrag des BMFSFJ hat sie zusätzlich als Gewaltschutzmultiplikatorin in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen die Länder und Kommunen aber auch Betreiber bei Gewaltschutzmaßnahmen in den Flüchtlingsunterkünften beraten. Sie ist Kinderschutzfachkraft und hat viele Schutzkonzepte für und mit Einrichtungen nach den Mindeststandards von UNICEF erarbeitet, aber auch Schulungen gegeben. Außerdem ist sie systemische Therapeutin und Supervisorin.