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Zitiervorschlag

Aus: Bildung, Erziehung, Betreuung von Kindern in Bayern 2000, Heft 1, S. 13-15

Ein neues Berufsprofil? Zur Berufsentwicklung (sozial-) pädagogischer Fachkräfte in Europa

Pamela Oberhuemer


Kindertageseinrichtungen und pädagogische Berufe sind in kulturelle Systeme eingebettet. Unsere Bilder von Kindern und Kindheit, von Elternrolle und Familienaufgabe, von Erziehung und Lernen orientieren sich an kulturspezifischen Leitbildern und Wertvorstellungen. Dies bewusst wahrzunehmen ist wichtig, nicht zuletzt, weil die Bildungs- und Erziehungsarbeit sich bereits heute - und noch mehr in Zukunft - an Kulturenvielfalt in den Tageseinrichtungen orientieren muss. Eine reflektierende Grundhaltung eigenen und anderen Vorstellungen und Sichtweisen gegenüber ist eine Basiskompetenz für die Umsetzung einer "Pädagogik der Vielfalt".

Fachliche Ausbildung, Berufsprofil und professionelles Selbstverständnis der Fachkräfte in Tageseinrichtungen für Kinder sind kulturell geformt. Je nach landesspezifischem Politikverständnis von Kindertagesbetreuung als gesellschaftlicher Aufgabe sind unterschiedliche Konturen erkennbar.

Berufsprofile von Fachkräften im Elementarbereich

Wenn Jens aus Kopenhagen - ein qualifizierter paedagog mit einer 3½-jährigen Fachhochschulausbildung für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen - sich über die Arbeit in einer école maternelle in Paris informieren will, wird er feststellen, dass die Fachkräfte dort einer ganz anderen Berufsgruppe gehören. In Frankreich sind sie Lehrkräfte, die für den Vor- und Grundschulbereich ausgebildet werden, während in Dänemark die paedagoger nicht nur eine ganz andere Ausbildung als Grundschullehrer haben, sondern auch ein anderes Berufsprofil und professionelles Selbstverständnis. Unterschiede wie diese gibt es quer durch Europa. Wenn wir die Ausbildung und die Praxisfelder von pädagogischen Fachkräften mit Gruppenverantwortung in öffentlich finanzierten Einrichtungen im Elementarbereich als Bezugsgruppe nehmen, dann lassen sich vier Berufsprofile unterscheiden.

Tabelle: Berufsprofile - EU-Länder
Fachkraft mit frühpädagogischer Orientierung Kinder ab dem ersten Lebensjahr bis zur Schulpflicht (0 bis 5, 6 oder 7 Jahre) Finnland (lastentarhanopettaja)

Schweden (förskollörare)

Spanien (maestro de EGB especialista en educación infantil)

Fachkraft mit vorschulpädagogischer Orientierung die zwei oder drei Jahre unmittelbar vor der Einschulung (2,5 oder 3 bis 6 Jahre, 4 bis 6 Jahre) Belgien (institutrice / instituteur de maternelle / kleuterleid(st)ter)

Griechenland (nipiagogos)

Luxemburg (institutrice / instituteur de l'éducation préscolaire)

Fachkraft mit schulpädagogischer Orientierung (Lehrer/in) Vorschul- und Grundschulbereich (3 oder 4 bis 11 oder 12 Jahre) Frankreich (professeur des écoles)

Irland (national teacher)

Niederlande (leraar basisonderwijs)

Fachkraft mit sozialpädagogischer Orientierung verschiedene Arbeitsfelder, u.a. Tageseinrichtungen für Null- bis Sechsjährige Dänemark (paedagog, 0 bis 99 Jahre)

Deutschland (Erzieher/in, 0 bis 27 Jahre)

Luxemburg (éducatrice / éducateur, für alle Einrichtungen außerhalb des Bildungswesens)

 Für die Fachkräfte in Finnland, Schweden und in Spanien habe ich die Bezeichnung Fachkraft mit frühpädagogischer Orientierung gewählt. Die Ausbildung in diesen Ländern zielt auf die Qualifizierung für die Arbeit mit Kindern von der Geburt bis zum schulpflichtigen Alter. Dies ist eine Rollenkonzeptualisierung, die innerhalb eines jeweils koordinierten Systems der Tagesbetreuung für Kinder vor dem Eintritt in das Pflichtschulsystem zu sehen ist. Die Elementarerziehung hat dadurch einen eigenständigen Status jenseits des Schulsystems.

In Belgien, Griechenland und Luxemburg ist der Ausbildungsfokus enger. Hier geht es um die zwei oder drei Jahre direkt vor der Einschulung. Somit verwende ich die Bezeichnung Fachkräfte mit vorschulpädagogischer Orientierung. Ihre Rolle ist eindeutig bildungsorientiert, und die Einrichtungen, in denen sie arbeiten, liegen in der Zuständigkeit der nationalen Bildungsbehörden. In Belgien und Griechenland ist die Ausbildung getrennt von der Ausbildung für den Grundschulbereich; in Luxemburg gibt es etwas Überlappung zwischen den beiden Bereichen.

Die verantwortlichen Fachkräfte in den écoles maternelles in Frankreich, in den (nichtpflichtigen) Vorschulklassen an Grundschulen in Irland oder in den Niederlanden werden als Lehrkräfte für den Vorschul- und Grundschulbereich ausgebildet, d.h. als Fachkräfte mit schulpädagogischer Orientierung. Im öffentlichen Bildungssystem fest verankert, werden sie für ein wesentlich breiteres Altersspektrum ausgebildet als die Vorschulspezialistinnen. Obwohl es in diesen Ausbildungsgängen einen zeitweiligen Fokus auf die frühen Jahre gibt, muss das Zeitbudget dafür immer mit dem des dominanteren Pflichtsschulsystems konkurrieren.

Der Begriff Fachkraft mit sozialpädagogischer Orientierung signalisiert ein generell breit dimensioniertes Berufsprofil. Diese Orientierung gibt es - neben dem Erzieher/innenberuf in Deutschland - auch in Dänemark und Luxemburg. In Deutschland und Luxemburg sind die Fachkräfte für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Einrichtungen außerhalb der Pflichtschule ausgebildet. In Dänemark ist das Ausbildungsspektrum noch weiter - wie bereits angedeutet: Paedagoger können nach ihrer Ausbildung sowohl mit Kindern und Jugendlichen als auch mit Erwachsenen in einer Vielzahl von sozialpädagogischen Feldern arbeiten.

Je nach tradiertem Berufsprofil werden die pädagogischen Fachkräfte eine etwas andere Auffassung über ihre Berufsrolle haben. Lehrer/innen oder Vorschulpädagog/innen, die in einem regulierten Bildungssystem fest verankert sind, werden ihre Arbeit als vorwiegend kind- und bildungsorientiert sehen; Fachkräfte mit einer frühpädagogischen oder sozialpädagogischen Orientierung werden ihren Beruf eher umfassender definieren: kindorientiert, aber auch familien- und gemeindeorientiert.

Berufsprofile von Fachkräften, die mit Unter-Dreijährigen und mit Schulkindern arbeiten

Zwei der oben genannten Berufsgruppen werden auch für die Arbeit mit Unter-Dreijährigen ausgebildet: die Fachkräfte mit frühpädagogischer Orientierung und die Fachkräfte mit sozialpädagogischer Orientierung. Diese Berufsprofile sind in Ländern zu finden, die ein koordiniertes Konzept der Kindertagesbetreuung anstreben oder bereits praktizieren. In anderen Ländern dagegen - in Frankreich, Belgien, Irland, den Niederlanden - gibt es ein klar getrenntes System von "Betreuungseinrichtungen" für die Unter-Dreijährigen und "Bildungseinrichtungen" für die Drei- bis Sechsjährigen. In diesen Ländern gibt es auch jeweils getrennte Ausbildungssysteme und Berufsprofile.

Für die Arbeit mit den Unter-Dreijährigen werden Qualifikationen auf einem formal niedrigeren Niveau vorausgesetzt als für die Arbeit mit Kindern ab drei oder vier Jahren. Diese Ausbildungen sind meistens im sozialpflegerischen und/oder im paramedizinischen Bereich angesiedelt, wobei es Bemühungen in einigen Ländern gibt (z.B. in Belgien und in den Niederlanden), diesen Ausbildungen und damit auch dem Berufsprofil eine stärker pädagogische Ausrichtung zu geben.

Die Bildungs- und Erziehungsarbeit mit Schulkindern ist in fast allen Staaten der EU wenig reglementiert. Ein eigenständiges Hortwesen hat sich bisher nur in den Ländern ohne Ganztagsschulen entwickelt (z.B. Deutschland, Dänemark, Schweden). Allerdings steigt der Bedarf an Angeboten für Schulkinder auch in den Ländern mit Ganztagsschulen, nicht nur vor und nach den Schulzeiten, sondern auch in den Ferienzeiten. In England zum Beispiel ist die Anzahl der Kids Clubs in den letzten Jahren stark gewachsen.

Schweden ist das einzige Land, das eine feldspezifische Ausbildung für diese Arbeit verlangt, und zwar auf Hochschulniveau. Freizeitpädagogen (fritidspedagoger) werden drei Jahre lang an der Universität ausgebildet. In Dänemark, wie auch in Deutschland, gibt es ebenfalls eine volle Ausbildung für diese Arbeit - allerdings nicht als Spezialausbildung, sondern im Rahmen der oben erwähnten Breitbandausbildung für sozialpädagogische Arbeitsfelder. Insgesamt ist der Bereich von den Personalanforderungen her aber wenig geregelt - ohne verbindliche Qualifizierungsstrategien und ohne eindeutige Berufsprofile.

Ein neues Berufsprofil?

In einigen Ländern werden zur Zeit Tendenzen erkennbar, die Implikationen für das Berufsprofil und das Verständnis von Professionalität haben (Oberhuemer 1999). Diese sind - um nur drei herauszugreifen -

  • die Ausweitung des Dienstleistungsspektrums von Tageseinrichtungen,
  • die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen und der Verantwortung für Qualitätsentwicklung auf die regionale bzw. lokale Ebene sowie
  • ein neues Interesse in Tageseinrichtungen als Orte der Bildung und des Lernens.

Ähnliche Entwicklungen sind in Deutschland zu beobachten. Im Rahmen der Zielvorgaben des KJHG und mit Blick auf die aktuellen Anforderungen an Kindergärten beziehen sich hierzulande die beruflichen Handlungsfelder professioneller Arbeit auf drei Ebenen:

  • die Begleitung von Bildungs- und Erziehungsprozessen bei den Kindern;
  • die Kommunikation mit Eltern und die Beteiligung von Eltern an der Programmplanung und -gestaltung;
  • die Vernetzung mit Fachdiensten und anderen Organisationen in der Region.

Wie auch in Deutschland wird in Ländern wie Dänemark, Schweden oder England zunehmend erwartet, dass sich Fachkräfte viel mehr als bisher an der Qualitätsentwicklung nicht nur in der Einrichtung, sondern auch in der Region beteiligen (Oberhuemer in Druck). Offen sein für verschiedene Formen der pädagogischen Dokumentation und Evaluation, bereit sein, die pädagogische Konzeption sowohl für Fachkolleg/innen als auch für andere Interessierte überzeugend darzustellen, sich einlassen auf Diskussionen über die Angebotsqualität mit Eltern, Träger, Jugendamt und Kommunalpolitiker/innen, sich beteiligen an kommunalpolitischen Willensbildungsprozessen mit Blick auf Kinderinteressen: dies sind nur einige der Herausforderungen.

In Deutschland gibt es bereits einzelne Tageseinrichtungen, die schon eine erweiterte Auffassung der Berufsrolle praktizieren. Diese Einrichtungen verstehen sich z.B. als Diskussionsforen für Bürgeranliegen, als Element im Gefüge des örtlichen Vereinslebens, als Anwendungsfeld für kommunale Sozialpolitik, als Teil innovativer Wohnmodelle u.v.a.m. (Colberg-Schrader/Krug 1999). Eines wird deutlich: Tageseinrichtungen werden in Zukunft viel mehr als bisher Bildungsfunktion und Netzwerkfunktion professionell verbinden müssen. Das verweist auf ein anspruchsvolles, aber auch vielseitiges und interessantes Berufsprofil.

Literatur

Colberg-Schrader, H./Krug, M.: Arbeitsfeld Kindergarten. Pädagogische Wege, Zukunftsentwürfe und berufliche Perspektiven. Weinheim: Beltz 1999

Oberhuemer, P.: Berufsprofil und Netzwerkexpertise: eine Studie zur Qualitätsentwicklung in Dänemark, England und Schweden. Bildung, Erziehung, Betreuung 1999, 4 (1), S. 26-29

Oberhuemer, P.: Zur Qualitätsdiskussion in Europa: Ziele - Projekte - Trends. In: Irskens, B./Vogt, H. (Hrsg.): Qualität und Evaluation. Ein Orientierungsbuch für Kindertageseinrichtungen. Materialien für die sozialpädagogische Praxis. Frankfurt a.M., in Druck

Anmerkung

Dieser Beitrag erscheint ferner in: Kinder in Tageseinrichtungen - Ein Handbuch für Erzieherinnen, herausgegeben von H. Colberg-Schrader, D. Engelhard, D. Höltershinken, K. Neumann und T. Sprey-Wessing, Seelze-Velber: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung.