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Zitiervorschlag

Die kitaergänzende Familie - sieben Fragen, sieben Antworten

Martin R. Textor

 

Bisher wurden Kindergärten als familienergänzende Einrichtungen bezeichnet. Aber man kann auch den Spieß umdrehen und von Familien als kitaergänzenden Institutionen sprechen. Was ist der Grund hierfür?

Mir wurde bewusst, dass Kleinkinder bei einer Ganztagsbetreuung mehr Zeit in Kindertageseinrichtungen bzw. Tagespflegestellen verbringen als in ihren Familien. Wenn Sie die Tabelle betrachten, sehen Sie, dass die Familienzeit - die Wachzeit, die ganztägig betreute Kleinkinder nicht in der Kita oder vor dem Fernseher verbringen - an Werktagen nur zwischen 2 Stunden und 3 Stunden 47 Minuten beträgt. In solch kurzen Zeiträumen können Eltern keinen großen erzieherischen Einfluss mehr ausüben, zumal in diese Zeitspannen am Vormittag Tätigkeiten wie das Wecken, Waschen und Ankleiden des Kindes, die erste Mahlzeit und der Transport zur Kita fallen - und dasselbe geschieht am Abend in umgekehrter Reihenfolge. Insbesondere wenn Eltern auch an den Wochenenden wenig Zeit mit ihrem Kind verbringen, werden Kindertageseinrichtungen bzw. Tagespflegestellen zu wichtigeren Sozialisationsinstanzen als die Familie. 

Alter des Kindes:

1 Jahr

2 Jahre

3 Jahre

4 Jahre

5 Jahre

Schlafdauer*

14 Std.

13 Std.

12 Std.
30 Min.

12 Std.**

11 Std.
30 Min.**

Wachzeit

10 Std.

11 Std.

11 Std.
30 Min.

12 Std.

12 Std.
30 Min.

Ganztags-betreuung

8 Std.

8 Std.

8 Std.

8 Std.

8 Std.

Fernsehzeit***

0 Min.

43 Min.

43 Min.

43 Min.

43 Min.

Familienzeit

2 Std.

2 Std.
17 Min.

2 Std.
47 Min.

3 Std.
17 Min.

3 Std.
47 Min.

* laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2015)
** gerundet
*** laut Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2015)

 

Aber gibt es überhaupt so viele Kleinkinder, die ganztags betreut werden?

Das Statistische Bundesamt hat für das Jahr 2015 ermittelt, dass Eltern für 90.733 unter dreijährige Kinder eine Betreuungszeit von 40 bis unter 45 Stunden sowie für 228.064 Kinder sogar von 45 Stunden und mehr mit Kindertageseinrichtungen vereinbart hatten. Bei drei- bis unter sechsjährigen Kindern lauteten die entsprechenden Zahlen 278.843 bzw. 752.938. Mehr als 1,3 Millionen Kleinkinder sind also acht oder sogar neun und mehr Stunden pro Tag in der Kita. Allerdings gibt es auch viele Fälle, wo die vereinbarten Betreuungszeiten nicht voll ausgeschöpft werden.

Können denn Erzieher/innen überhaupt eine so gute Erziehungsarbeit wie Eltern leisten?

Wenn Eltern die Erziehungs- und Bildungspläne der für Kindertagesbetreuung zuständigen Länderministerien lesen - eine Zusammenstellung finden Sie auf www.kindergartenpaedagogik.de/1951.html -, werden Sie den Eindruck gewinnen, dass sie noch nicht einmal annähernd das leisten können, was Erzieher/innen seitens der Bundesländer vorgegeben wird: Da werden auf vielen, vielen Seiten die Kompetenzen beschrieben, die Kleinkindern in Kindertageseinrichtungen vermittelt werden sollen. Ferner werden Bildungsbereiche dargestellt, in denen Kleinkinder Wissen erwerben sollen. Beim Lesen der Erziehungspläne werden viele Eltern sagen: "Toll, was Kitas im Bereich der frühkindlichen Bildung leisten! Da kann ich ruhig den Großteil meiner Erziehungsverantwortung an sie delegieren..." Und so lernen Kleinkinder heute in der Kindertageseinrichtung (und nicht mehr in der Familie), wie man mit Messer und Gabel umgeht, wie man sich selbständig ankleidet, wann man auf das Klo geht usw.

Aber leisten Kitas all das, was in den Bildungsplänen der Bundesländer steht?

Unter den derzeitigen Rahmenbedingungen - zu große Gruppen, schlechter Personalschlüssel, hoher Anteil von Kindern, die eine besondere Förderung benötigen, usw. - ist dies kaum zu schaffen. So hat die "Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit" (NUBBEK) ergeben, dass 80% der untersuchten Betreuungsformen nur eine mittlere pädagogische Prozessqualität erreichten (Tietze et al. 2013). In zum Teil deutlich mehr als 10% der Fälle war die Qualität sogar unzureichend.

Was bedeutet dies für Eltern, die ihr Kind acht Stunden lang oder sogar länger in Kindertageseinrichtungen betreuen lassen?

Sie müssen sich bewusst machen, dass Kindertagesstätten keine familienersetzenden Einrichtungen sind. Eltern sind weiterhin hauptverantwortlich für die Erziehung und Bildung ihres Kindes. Selbst wenn sie bei einer Ganztagsbetreuung an Werktagen nur wenig Zeit mit ihrem Kind verbringen, sollten sie einen Teil dieser Zeit für Gespräche mit dem Kind nutzen. Viel kann an den Wochenenden nachgeholt werden: gemeinsames Spielen, Betrachten von Bilderbüchern, Einbindung des Kindes in Haushaltstätigkeiten, Tischgespräche usw. Es muss nicht viel Zeit mit dem Kind verbracht werden - entscheidend ist, ob dies "Qualitätszeit" ist.

Je jünger ein Kleinkind ist, umso wichtiger für eine gesunde Entwicklung ist auch eine sichere Bindung an die Eltern. Ein Alarmzeichen ist hier, wenn ein unter dreijähriges Kind weint, wenn es abends von seinen Eltern abgeholt wird - was inzwischen öfters passiert. Dann müssen die Eltern dringend etwas für die Bindung tun!

Und was heißt jetzt "kitaergänzend"?

Wenn Kindertageseinrichtungen zur wichtigsten Sozialisationsinstanz im Kleinkindalter werden, müssen Eltern wissen, wie dort ihr Kind erzogen und gebildet wird. Zum einen können sie dann in der Kita erfolgte Aktivitäten aufgreifen und zu Hause fortführen - also z.B. mit dem Kind dieselben Lieder singen, mit ihm über das jeweilige Monats-, Wochen- oder Projektthema sprechen, ein dazu passendes Bilderbuch besorgen und mit ihm anschauen. Zum anderen müssen sie ermitteln, welche Bedürfnisse und Bedarfe ihres Kindes in der Kita nicht abgedeckt werden. In den großen Gruppen bekommen Kleinkinder oft zu wenig Zuwendung, dann benötigen sie viel Zuneigung seitens ihrer Eltern. Hat ein Kind besondere Begabungen, die in der Kindertageseinrichtung nicht genug gefördert werden (können), sind die Eltern gefragt. Hat es nur einen geringen Wortschatz, weil die Erzieher/innen wegen der vielen Kinder mit Migrationshintergrund nur eine einfache Sprache verwenden, sollten die Eltern es mit komplizierteren Begriffen und grammatikalischen Strukturen vertraut machen. Das sind natürlich nur einige Beispiele.

Kommt hier nicht auch der von Ihnen mitgeprägte Begriff der Erziehungspartnerschaft zum Tragen?

Ja, Eltern können nur kitaergänzend tätig werden, wenn sie wissen, was in der Kindertageseinrichtung passiert und wie sich ihr Kind dort entwickelt. Das setzt Tür- und Angel-Gespräche und die noch wichtigeren Termingespräche voraus. Dann können Erzieher/innen und Eltern sich hinsichtlich der Erziehung und Bildung des jeweiligen Kindes abstimmen und diese zu einem gemeinsamen Unterfangen machen.

Literatur

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Durchschnittliche Schlafdauer in verschiedenen Altersstufen (2015). http://www.kindergesundheit-info.de/themen/schlafen/1-6-jahre/schlafdauer/ (15.04.2016)

Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: miniKIM 2014. Kleinkinder und Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 2- bis 5-Jähriger. Stuttgart 2015

Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Kinder und tätige Personen in Tageseinrichtungen und in öffentlich geförderter Kindertagespflege am 01.03.2015. Wiesbaden 2016 (S. 57)

Tietze, W./Becker-Stoll, F./Bensel, J./Eckhardt, A./Haug-Schnabel, G./Kalicki, B./Keller, H./Leyendecker, B. (Hrsg.): Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit (NUBBEK). Kiliansroda: verlag das netz 2013