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Zitiervorschlag

Familie - zentraler Ort der Alltagsbildung

Martin R. Textor

 

Das Wissen und Können Berufstätiger beruht nur zu einem kleinen Teil auf dem, was sie einmal auf der Schule, in der Ausbildung bzw. an der Hochschule gelernt haben - insbesondere wenn diese Zeit schon viele Jahre zurückliegt. Den größeren Teil ihrer Kenntnisse und Kompetenzen haben Erwerbstätige im Berufsalltag an ihrem Arbeitsplatz erworben: am Vorbild erfahrener Kollegen (Modelllernen), in der Kooperation mit Mitarbeiter/innen (ko-konstruktives Lernen), durch Ausprobieren (experimentelles Lernen), durch Versuch und Irrtum (Lernen aus Erfahrung) oder durch die Aneignung von Informationen, indem sie gezielt im Internet oder in der Fachliteratur recherchiert haben. Sicherlich haben Berufstätige auch Fortbildungen besucht, aber je länger diese zurückliegen, umso eher haben sie das damals Gelernte im Berufsalltag aktualisiert und erweitert (Haben sie beispielsweise vor mehreren Jahren einen Computerkurs besucht, mussten sie seitdem viele neue Funktionen erlernen, da Programme alle paar Jahre aktualisiert werden). In der sich anbahnenden Wissensgesellschaft werden an Schulen, in der Ausbildung, an Hochschulen oder am Arbeitsplatz erworbene Kenntnisse immer schneller veralten - lebenslanges Lernen wird zur Regel werden.

Ähnliches gilt für erzieherische Kompetenzen: Eltern erwerben sie weitgehend im Familienalltag. Wenn sie Elternratgeber und -zeitschriften gelesen oder Angebote der Familienbildung genutzt haben, haben sie sich sicherlich Kenntnisse angeeignet, sind aber oft auch verunsichert worden. Am meisten haben Eltern im Umgang mit ihren Kindern gelernt: durch Ausprobieren, durch Versuch und Irrtum, durch den Austausch mit ihrem Partner oder am Vorbild anderer Eltern - inklusive der eigenen Eltern.

Fazit: Das meiste, was wir wissen und können, haben wir uns im Berufs- bzw. Familienalltag angeeignet. In den Erziehungswissenschaften wird hier von Alltagsbildung bzw. informeller Bildung gesprochen und diese von der formalen Bildung an Schulen und Hochschulen unterschieden.

Auch Kleinkinder eignen sich viele Kenntnisse und Kompetenzen durch Alltagsbildung an - und hier ist die Familie der Kindertageseinrichtung weit überlegen. Ein Beispiel: Die Sprachstandserhebung der Berliner Kindertagesstätten von 2011 ergab, dass 4.600 Kinder (17%) des Geburtsjahrgangs 2006 einen Sprachförderbedarf hatten (Vieth-Entus 2012). Zumeist handelte es sich um Kinder mit Migrationshintergrund. Die Hälfte der 4.600 Fünfjährigen hatte mehr als zwei Jahre lang eine Kindertageseinrichtung besucht - und rund 700 sogar mehr als drei Jahre. Diese Kinder hatten also die deutsche Sprache nicht ausreichend gelernt, obwohl sie mit zwei oder drei Jahren in eine Kita kamen.

Prinzipiell lernt man die Muttersprache im Lebensalltag, in der Kommunikation mit anderen Menschen, in der Interaktion mit seinen Eltern. Hier macht es einen großen Unterschied, ob ein Kleinkind der deutschen Sprache an allen 7 Tagen der Woche für 15 Stunden oder nur an 5 Tagen der Woche für 4 bis 8 Stunden ausgesetzt ist.

Selbst ein Förderprogramm kann die Alltagsbildung nicht ersetzen: So hat man in allen Bundesländern Sprachkurse für Kleinkinder mit Migrationshintergrund eingeführt, die Sprachtests nicht bestanden haben. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen, die z.B. über entsprechende Programme in Hessen ("Vorkurse Deutsch"), Baden-Württemberg ("Sag' mal was") und Brandenburg vorliegen, sind deren Effekte aber minimal (Spiewak 2012).

Kleinkinder lernen nämlich nur wenig in unterrichtsähnlichen Kontexten, da sie sich nicht längere Zeit konzentrieren können - vor allem aber, weil Lernen in der frühen Kindheit anders verläuft, nämlich im Lebensalltag. Sie erwerben eine Sprache, weil mit ihnen ganz viel gesprochen wird und sie in der übrigen Zeit in einem "Sprachbad schwimmen", weil die Menschen um sie herum fortwährend diese Sprache verwenden. So lernt ein Kind die deutsche Sprache durch die Kommunikation mit seinen Eltern in ganz unterschiedlichen Alltagssituationen. Und bei bilingualen Eltern kann ein Kleinkind auf diese Weise sogar zwei Sprachen lernen.

Eine so genannte alltagsintegrierte Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen stößt hingegen an mehrere Grenzen: Beispielsweise verbringen Kinder mit Migrationshintergrund nur wenige Stunden in der Kita (an fünf Wochentagen). Zudem sind die Gruppen so groß, dass Erzieher/innen nur selten mit einem einzelnen Kind für längere Zeit kommunizieren können. Schließlich ballen sich Kinder mit Migrationshintergrund (und unterschiedlichen Familiensprachen) oft in einzelnen Kindertageseinrichtungen, was die Sprachförderung zusätzlich erschwert (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S. 58).

Die Alltagsbildung in der Familie ist aber auch der Schulbildung "überlegen" - im negativen wie auch im positiven Sinne: So besuchen Kinder aus bildungsschwachen Familien (z.B. aus sozial schwachen Familien bzw. solchen mit Migrationshintergrund) häufiger Haupt- und Realschulen, erwerben also seltener das Abitur als Kinder aus bildungsstarken Familien (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012). Dementsprechend hält das Bundesministerium für Bildung und Forschung (2010) fest: "Die grundlegenden sozialen Disparitäten erweisen sich als relativ stabil. Die Gruppen mit der höchsten Beteiligungsquote beim Hochschulzugang - Kinder aus Selbständigen- und Beamtenfamilien, in denen mindestens ein Elternteil ein Studium absolviert hat - weist auch 2007 noch eine etwa fünf Mal so hohe Studierchance auf wie die Gruppe mit der niedrigsten Beteiligungsquote, den Kindern aus Arbeiterfamilien" (S. 9).

Auch hier macht die Alltagsbildung den Unterschied. Ein Kind verbringt schätzungsweise 30 Stunden pro Woche in Kindergarten und Grundschule, aber rund 60 Stunden in der Familie. Damit ist die Qualität der informellen Bildung in der Familie für eine zweimal so lange Zeit prägend wie die Qualität von Kindergarten und Grundschule. Dementsprechend haben viele wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, dass die Familie einen doppelt so großen Einfluss auf die Schullaufbahn eines Kindes hat wie Kindergarten oder Schule (Textor 2012).

So ist es nicht verwunderlich, dass die Bildungschancen eines Kindes weitgehend davon abhängen, ob es in einer bildungsstarken oder bildungsschwachen Familie aufwächst. In einer bildungsnahen Familie erwirbt ein Kind z.B.

  • einen größeren Wortschatz, weil die Eltern mehr mit ihm sprechen,
  • einen anderen Sprachstil, da die Eltern ein qualitativ höherwertiges Deutsch sprechen,
  • umfassendere Kenntnisse, da die Eltern seine Fragen ermutigen und beantworten sowie miteinander über mehr Themen sprechen,
  • vielfältigere Interessen, da die Eltern die Interessensbildung fördern und selbst vielseitig interessiert sind, sowie
  • eine andere Einstellung zu Lernen und Leistung, da seine Eltern höhere Erwartungen an das Kind und sich selbst haben.

Von großer Bedeutung sind somit das Vorbild der Eltern (Modelllernen) sowie die Intensität und Qualität der Familienkommunikation.

Informelle Bildung erfolgt in der Familie bei Alltagsaktivitäten wie Tischdecken, Kochen, Backen, Gartenarbeit usw., in der Kommunikation miteinander bei Mahlzeiten, im Auto, bei Spaziergängen usw., im Spiel bzw. durch Erkunden der häuslichen und außerhäuslichen Umgebung sowie bei besonderen Unternehmungen wie Ausflügen, Besichtigungen, Urlaubsreisen usw. (experimentelles Lernen, Lernen durch Versuch und Irrtum oder ko-konstruktives Lernen zusammen mit Geschwistern bzw. Eltern). Entscheidend für die frühkindliche Bildung ist somit die Einbeziehung der Kinder in Familienaktivitäten und Gespräche. Und dazu benötigen Eltern noch nicht einmal viel Zeit...

Die meisten Eltern führen auch täglich oder mehrmals pro Woche absichtlich bildende Aktivitäten mit ihren Kindern durch, wie Tabelle 1 verdeutlicht (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, Tab. C1-4web). Wenig überraschend ist, dass dies bei Eltern mit einem höheren allgemeinbildenden Schulabschluss und bei Eltern ohne Migrationshintergrund (Ausnahme: 3. Generation) häufiger der Fall ist. Erwerbstätige Eltern - insbesondere wenn beide arbeiten - fördern ihre Kinder intensiver, als wenn beide Eltern ihren Beruf nicht ausüben. Mit Mädchen werden bildende Aktivitäten etwas häufiger als mit Jungen durchgeführt. Dasselbe gilt für unter Dreijährige, die in Kindertageseinrichtungen/ Tagespflege betreut werden, und für die wenigen Drei- bis Sechsjährigen, die ausschließlich zu Hause erzogen werden.

Tabelle 1: Häufigkeit von Bildungsaktivitäten* in der Familie von unter 6-jährigen Kindern 2009 nach Alter, Geschlecht, höchstem allgemeinbildenden Schulabschluss der Eltern, Migrationshintergrund, Erwerbstätigkeit der Eltern und Betreuungsform (in %)**
Personengruppe Bildungsaktivitäten in der Familie
Häufig Mittel Selten
in %
Insgesamt 46,0 46,0 8,0
Alter der Kinder
Unter 3 Jahre 44,1 43,9 12,0
3 bis unter 6 Jahre 47,9 48,0 4,1
Geschlecht
Männlich 42,1 49,1 8,9
Weiblich 50,2 42,7 7,1
Höchster allgemeinbildender Schulabschluss der Eltern1)
Niedrig 36,0 50,3 13,7
Mittel 38,8 51,0 10,1
Hoch 49,6 43,7 6,7
Migrationshintergrund
Ohne Migrationshintergrund 46,1 46,3 7,7
3. Generation
(beide Elternteile in Deutschland geboren)
50,0 44,1 5,9
2. Generation
(ein Elternteil in Deutschland geboren)
44,9 44,7 10,4
2. Generation (kein Elternteil in Deutschland geboren) und 1. Generation 42,4 47,2 10,3
Erwerbstätigkeit2)
Keiner erwerbstätig 41,9 45,0 13,1
Einer erwerbstätig 45,3 44,3 10,4
Beide erwerbstätig 47,8 48,6 3,6
Betreuungsform
Kindertageseinrichtung/Tagespflege 48,9 47,2 4,0
Unter 3 Jahre 54,3 42,3 (3,4)
3 bis unter 6 Jahre 47,2 48,6 4,1
Ausschließlich in Familie/Sonstige Betreuung 41,2 43,9 14,9
Unter 3 Jahre 39,7 44,5 15,8
3 bis unter 6 Jahre 59,5 36,2 (4,4)
* Folgende Einzelaktivitäten wurden zu einem Index bildungsrelevanter Tätigkeiten zusammengefasst:(1) Malen/Basteln, (2) Geschichten vorlesen/erzählen, (3) Bilderbücher anschauen, (4) zusammen musizieren, (5) zusammen Lieder singen, (6) kulturelle Aktivitäten (Theater-/Museumsbesuche); Häufig = Werte zwischen 1 und 2,4; Mittel = Werte zwischen 2,5 und 3,4; Selten = Werte zwischen 3,5 und 5. (Die Ursprungscodierung lautete: 1 = Jeden Tag, 2 = Mehrmals pro Woche, 3 = Ein- bis zweimal pro Woche, 4 = Seltener, 5 = Nie.)
** Fallzahlen: n = 4.921; die Werte in Klammern sind aufgrund zu kleiner Fallzahlen nicht interpretierbar.
1) Höchster allgemeinbildender Schulabschluss der Eltern: Niedrig = Ohne Abschluss/Hauptschulabschluss, Mittel = Mittlerer Abschluss, Hoch = (Fach-)Hochschulreife
2) Aktuelle Haupttätigkeit; Erwerbstätige Alleinerziehende wurden unter "beide erwerbstätig" kodiert.
Quelle: DJI, AID:A 2009

Rund 57% der Eltern führen auch häufig leseförderliche Tätigkeiten mit Kleinkindern durch, insbesondere: (1) Bücher vorlesen, (2) Geschichten erzählen, (3) Lieder singen, (4) mit ABC-Spielzeug spielen, (5) Wortspiele spielen, (6) Schilder und Beschriftungen laut vorlesen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S. 50 f.). Dies geschieht öfters bei einem höheren Bildungsstand der Eltern, bei einer Ausstattung des Haushaltes mit mehr Büchern (Ausdruck der kulturellen Orientierung der Familie) und bei Familien ohne Migrationshintergrund.

Hinzu kommt Folgendes: "Eltern sind nicht nur selbst wichtige entwicklungsfördernde Impulsgeber für ihre Kinder, sondern sie fungieren auch als entscheidende Wegbereiter für außerhäusliche Bildungsangebote. Rund 62% der Eltern von unter 2-Jährigen nutzen organisierte Förderangebote wie Babyschwimmen oder gezielte Eltern-Kind-Angebote, um die Entwicklung ihrer Kinder möglichst früh zu fördern (...). Mit 43% werden diese Angebote deutlich seltener von Eltern mit Migrationshintergrund genutzt" (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S. 48 f.). Deutsche Eltern nutzen auch früher und länger die frühkindlichen Bildungsangebote von Kindertageseinrichtungen. So waren im Jahr 2012 rund 30% der deutschen unter Dreijährigen und 97% der Drei- bis Fünfjährigen in Kindertagesbetreuung, aber nur 14 bzw. 85% der gleichaltrigen Kinder mit Migrationshintergrund (Statistisches Bundesamt 2012).

So lässt sich abschließend mit der Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2012) festhalten: "Die Familie spielt als primäre Sozialisationsinstanz und als Ort der Bildung eine zentrale Rolle für den Verlauf der Bildungsbiografie. ... In der Familie werden nicht nur wesentliche basale Kompetenzen und Vorläuferfähigkeiten vermittelt, es finden - überwiegend alltagsintegriert und spielerisch - auch unterschiedliche Bildungsprozesse statt, die langfristig die Bildungsmotivation und -chancen der Kinder erheblich beeinflussen. Eltern geben ihren Kindern Orientierungshilfen, eröffnen wichtige Entfaltungsmöglichkeiten und treffen zudem stellvertretend bedeutsame Bildungsentscheidungen" (S. 48).

Literatur

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.): Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag 2012

Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009. 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System. Bonn, Berlin: Selbstverlag 2010

Spiewak, M.: Zu kurz, zu spät, zu abstrakt. Deutschunterricht für Migrantenkinder in der Kita gilt als Erfolgsmodell. Doch die derzeitigen Kurse sind nahezu wirkungslos. http://www.zeit.de/2010/43/B-Sprachtests (abgerufen am 02.08.2012)

Statistisches Bundesamt: Betreuungsquote von Kindern unter 6 Jahren mit und ohne Migrationshintergrund in Kindertagesbetreuung nach Ländern und Altersgruppen am 1. März 2011. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Kindertagesbetreuung/Tabellen/betreuungsquote-migration-unter6jahren-aktuell.html (abgerufen am 02.08.2012)

Textor, M.R.: Kita, Schule, Familie - in gemeinsamer Verantwortung. http://www.ipzf.de/Kita_Schule_ Familie.html (abgerufen am 02.08.2012)

Vieth-Entus, S.: Kitabesuch garantiert keine ausreichenden Sprachkenntnisse. http://www.zeit.de/ gesellschaft/schule/2012-02/berlin-kita-sprachfoerderung (abgerufen am 02.08.2012)

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de

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