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Zitiervorschlag

Aus: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, TPS 1/2007

Das Gruppenleben der unter Dreijährigen und seine Anforderungen an Kinder und Erzieherinnen

Gertrud Ennulat

 

Auf einmal werden die Kleinen für die Kindergärten interessant. War es bisher eine Ausnahme, dass Kinder unter drei Jahren in einer festen Gruppe zusammen lebten, so verändert sich die pädagogische Landschaft derzeit rapide. Was bisher undenkbar war, wird durch die Umsetzung in der Praxis nicht automatisch selbstverständlich und richtig. Deshalb ist es gut, kritische Fragen zu stellen, z.B.: Kann man bei dieser Ansammlung kleiner Kinder überhaupt von einer Gruppe sprechen? Sind sie nicht überfordert, wenn sie jeden Tag mit anderen Kindern zusammen sein müssen? Wie ist es mit den Anforderungen an die Erzieherinnen?

Diesen Fragen möchte ich nachgehen durch Beobachtungen in einem Kindergarten, der neben den regulären Gruppen auch eine sehr nachgefragte Vormittagsgruppe für Kinder zwischen eins und drei Jahren anbietet. Zwei Erzieherinnen und eine Praktikantin gestalten den Alltag mit zwölf Kindern. Für eine begrenzte Zeit kann ich den Wandel in der Früherziehung authentisch miterleben und mir ein Bild machen von dem als Paradigmenwechsel in der aktuellen pädagogischen Diskussion bezeichneten Vorgang.

Dieses Schlagwort weist auf die Änderung von bisher gültigen Denkmustern hin. In diesem Prozess des Umdenkens befinden sich alle Personen, die das Leben der unter Dreijährigen mitgestalten: die Träger einer Einrichtung, die pädagogischen Mitarbeiterinnen, die Eltern, aber auch die Kinder. Denkmuster beeinflussen die Art und Weise, wie pädagogische Austauschprozesse wahrgenommen und gewertet werden. Wer neu sehen lernen will, muss deshalb die alte Brille abnehmen.

Merkmale einer Gruppe

Zu den wichtigen Merkmalen einer Gruppe gehören ihre Dynamik, ihre Aktivitäten, die Interaktion als Wechselbeziehung der Mitglieder untereinander sowie die Gruppennormen, die das Wir-Gefühl stärken. Mein Besuch macht mich zu einem Glied der bestehenden Gruppe. Ich nehme teil an ihrer Dynamik und trage durch mein Erscheinen zu ihrer Veränderung bei. Das zeigt sich deutlich, als die Kinder ihre übliche Sitzordnung verändern. Sitzen sonst Jungen und Mädchen bunt gemischt nebeneinander, wenn sie sich im Morgenkreis gruppieren, ist das heute anders. Die Mädchen setzen sich alle nebeneinander, die Jungen sitzen ihnen gegenüber. Wieso diese Trennung nach Geschlechtern? Was drückt sich aus? Meine Überlegungen finden eine sehr persönliche Antwort: Die Mädchen, die unbedingt wollten, dass ich bei ihnen sitze, haben sicherlich gespürt, was mit mir innerlich umgeht, denn Kinder spüren ja mit feinsten Antennen in den Erwachsenen hinein. Mehr als einmal hatte ich beim Anblick der Mädchen gedacht, wie schön es wäre, wenn mein neues Enkelkind ein Mädchen wird. Vielleicht geht die Botschaft der Gruppe ja in diese Richtung!

Gruppendynamik

Jeder, ob Erwachsene oder Kinder, bringt seine innere Befindlichkeit in eine Gruppe mit, trägt also seinen inneren Zustand unbewusst mit sich und kommuniziert mit den Stimmungen und Gefühlen der anderen. Ein ständiger Fluss positiver und negativer Kräfte ist in Bewegung, Sympathie und Antipathie zwischen einzelnen, der Gruppenleiterin oder einer Subgruppe. Dieses Energiefeld wird genährt durch das Geschehen im Inneren der Kinder und der Erwachsenen. Gleichzeitig dringt es nach außen, bildet sich auf spezifische Weise ab und will vom Gruppenleiter wahrgenommen werden. Deshalb ist es hilfreich, sich immer wieder die Frage zu stellen: Was zeigt die Gruppe heute? Welches Bild entsteht für mich? Was drückt sich aus?

Da die Erzieherinnen als Mitglieder der Gruppe die Dynamik ebenso beeinflussen wie die Kinder, ist es immer hilfreich, die eigene Person mit in die kritische Reflektion einzubeziehen und zu fragen: Was will uns/mir die Gruppe sagen? Was sehe ich, wenn die Gruppe für mich/uns zum Spiegel wird? Eine wichtige Anforderung an die Erzieherin im Umgang mit der Gruppe der unter Dreijährigen heißt deshalb: Ein Sensorium entwickeln für das, was nicht gleich sichtbar ist und davon ausgehen, dass der unterschwellige Bodensatz ein wichtiger Bestandteil für die Dynamik in der Gruppe ist. Deshalb ist ein waches und genaues Beobachten der Gruppenaktivitäten unerlässlich, denn sie geben Aufschluss darüber, was der Gruppe oder einer Subgruppe gerade wichtig ist.

Gruppenaktivitäten

Manchmal gehen die Anstöße von einzelnen Kindern aus, wie das folgende Beispiel zeigt: Im großen Gymnastikraum rutschen die Mädchen und Jungen nacheinander mit dem Bauch über eine lange Bank. Doch auf einmal steckt sich ein Mädchen einen Ball unters T-Shirt und läuft damit durch den Raum. Ein großer Teil der anderen Kinder macht es ihr spontan nach. Laut lachend spielen alle dicker Bauch, denn die Mutter des Mädchens ist seit einiger Zeit schwanger. Von diesem Geschehen lassen sie sich anstecken und setzen sich in spielerischer Weise mit dem Phänomen Schwangerschaft auseinander. Falsch wäre es, mit einem sturen Blick auf die Planung des Vormittags diese Aktivität zu unterbinden. Besser ist es, die Kinder humorvoll zu begleiten und eine Auge darauf zu haben, wann der allgemeine Heiterkeitspegel darauf hinweist, dass die Situation kurz vor dem Umkippen ist. Jetzt ist die Gruppe auf den Erwachsenen angewiesen, der in wenigen Worten das Geschehen für die Kinder transparent macht und zu einer neuen Aktivität überleitet.

Alle Kinder sind Teil der Halt und Struktur gebenden Gruppe. Sie orientieren sich aneinander, stecken sich an, imitieren sich, haben Vorbilder und lernen am liebsten von anderen Kindern. Das zeigt sich u.a. im Bereich der Sauberkeitserziehung. Was im häuslichen Milieu oft zu Kon-flikten führt und mit viel Stress beladen ist, läuft in der Gruppe ganz natürlich und problemlos ab. Im Laufe der Zeit schwingen sich die Kinder auf einen Rhythmus ein, dann sitzen zu einem festen Zeitpunkt immer zwei Kinder nebeneinander auf dem Töpfchen und freuen sich, wenn jedes ein vorzeigbares Resultat drin hat.

Genauso selbstverständlich freuen sie sich auf Himpelchen und Pimpelchen, auf die Wiederkehr der vertrauten Reime und Lieder. Wenn Kinder sich als Teil einer Gruppe unter der einfühlsamen Begleitung durch Erwachsene erleben, sind sie emotional verankert, und ihr individuelles Lernprogramm kann sich entfalten. Davon profitiert beispielsweise ein Junge, der im Kindergarten noch kein Wort gesprochen hat, aber beim gemeinsamen Reime-Sprechen laut und gut verständlich mit deklamiert. Offensichtlich unterstützt ihn die Energie der Gruppe dabei.

Interaktionen

Bisher dachte man, dass die Altersgruppe der unter Dreijährigen am liebsten alleine spiele. Offensichtlich war das ein Vorurteil, welches in den Kleinen auf sich bezogene Einzelgänger mit kaum vorhandener sozialer Kompetenz sah. Doch die Interaktionen der Kinder unter drei sind sehr vielfältig und laufen anders ab als bei den größeren. Viele Kontaktaufnahmen entstehen durch wortlose Übereinstimmung zwischen zwei Kindern. Eines hat eine Idee, und durch einen Blick, eine Geste teilt sich dies dem anderen mit. Sie fangen ein gemeinsames Spiel an, ohne dass vorher darüber geredet werden musste.

Viele Interaktionen dieser Altersgruppe drücken sich über Blickkontakt aus. Mit den Augen teilen die Kinder mit, wie sie sich fühlen, was sie denken, was sie wollen. Manchmal blitzt es in ihren Augen vor Freude, dann wieder zeigen unsichere Blicke, was los ist. Wenn ein Kind für eine Weile wegschaut, den Blick eines anderen nicht erwidert, dann muss dies nicht zwangsläufig als Desinteresse interpretiert werden. Oft signalisiert ein Kind durch diese Haltung, dass es Zeit braucht, um alles auf die Reihe zu bringen. Kinder registrieren sehr aufmerksam, ob die Erzieherin sie im steten Blickkontakt durch den Tag begleitet, reagieren auf ihren fragenden Blick ebenso wie auf einen missbilligenden. Wenn es ihnen durch Blickkontakt nicht gelingt, Kontakt zu einem anderen herzustellen, greifen sie zu stärkeren Ausdrucksmitteln wie Schubser oder Rangeleien.

Bei den ganz Kleinen ist der ausgestreckte Zeigefinger ein wichtiges Instrument der Interaktion. Sie bewegen sich durch den Raum, und der ausgestreckte Zeigefinger einer Hand wirkt dabei als Richtungsanzeiger und Signal. Damit stellen sie Kontakt her und weisen den Anderen auf etwas Wichtiges hin. Häufig nimmt ein Kind ein anderes auch einfach an der Hand und drückt auf diese Weise aus: Ich will mit dir spielen, ich mag dich!

Innerhalb der Gruppe finden sich nach kurzer Zeit die Rollen der Witzbolde, Tröster, Unterhalter, Vorwärtsdrängler, Vermittler, Verantwortlichen, Kämpfer, Störenfriede, Mitteilsamen, aber auch der Schwarzen Schafe. Da diese Zuschreibung für das betroffene Kind schmerzhaft und beschämend ist, muss bereits im frühen Alter darauf hingewirkt werden, dass die Projektion des Schwarzen Schafes oder des Sündenbocks nicht zu einem Persönlichkeitsmerkmal eines Kindes wird.

Anforderungen an die Erzieherin

In der Kommunikation mit den unter Dreijährigen verläuft vieles nonverbal, weil bei manchen Kindern die Sprachfähigkeit noch nicht genügend entwickelt ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Erzieherin deshalb weniger sprechen sollte. Vielmehr muss sie Sprache für die Kinder finden, denn diese sind darauf angewiesen, dass der Erwachsene ihre Intentionen und Gefühle in Sprache bringt und zu ihrem Sprachrohr wird. Auf diesem Weg wächst das Bewusstsein für sich selbst. Es tut immer gut, wenn sich ein Kind in adäquaten Worten wieder findet. Das gilt für die Erzieherin ebenso wie für das Kind.

Der lange Zeit tradierte Glaubenssatz, dass die Kinder unter drei Jahren nur bei der vertrauten Bezugsperson im häuslichen Umfeld sich wohl fühlen, kann widerlegt werden. Dabei haben die Erzieherinnen eine Schlüsselrolle im Hinblick auf Entwicklung und Wohlergehen der Kinder. Diese erleben sich in dieser tragfähigen Beziehung geliebt und willkommen und erschließen sich ihre Welt, angeregt durch ihr inneres Programm und eine immer wieder neu sie stimulierende Umgebung.

Der Vorgang der Stimulation bleibt aber nicht auf die Kinder beschränkt, denn diese wirken durch ihr Eigensein auch stimulierend auf die Erzieherin. Sie entdeckt neue Seiten an sich, hätte vielleicht nie gedacht, dass so viele Saiten ihres Wesens im Alltag mit den Kindern anklingen.