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Zitiervorschlag

Aus: klein&groß 2005, Heft 5, S. 6-10

Es atmet und bewegt sich - Es lebt

Herbert Österreicher

 

Der Umgang mit Tieren ist für Kinder etwas sehr Wichtiges, und es wäre viel zu kurz gegriffen, dabei nur an "Streicheltiere" wie Meerschweinchen, Hunde oder Katzen zu denken. Solche Haustiere haben zwar eine besondere Bedeutung, aber auch der Kontakt mit ganz anderen Tieren ermöglicht elementare und weit reichende Erfahrungen: Es geht um die Wahrnehmung von Lebewesen an sich, das Erleben von Ähnlichkeit und Anderssein, es geht um Wissen, Respekt und Einfühlungsvermögen, es geht um die psychische Seite ökologischer Zusammenhänge, die Entwicklung des Ich-Bewusstseins und die eigene Persönlichkeit. Es geht um eine Annäherung an die Natur in vielen Dimensionen.

Alles Wichtige geschieht im Verborgenen

Vor einiger Zeit hatte der Autor ein Erlebnis mit Kindern der zweiten Klasse einer Grundschule, mit der er eine kleine Waldexkursion durchführte. Die Kinder waren lebhaft und laut und fanden es toll, zu rennen und das ihnen unbekannte Gelände zu "erobern". Plötzlich fiel jemandem auf, dass eines der Kinder, ein Mädchen, etwas hinter der Gruppe zurück geblieben war. Sie stand allein mitten auf dem Weg, einen Arm in einer sonderbar abgewinkelten Weise vorgestreckt, ganz ruhig, ohne sich zu bewegen. Keine Reaktion, als wir sie riefen.

Einige Kinder liefen daraufhin zu ihr, und als wir anderen sahen, dass diese Kinder plötzlich ebenso still bei dem Mädchen stehen blieben, wurden wir neugierig und wollten wissen, was es da gab. Rasch bildete sich um das Mädchen ein großer Kreis, aber wir konnten nichts Besonderes entdecken, bis das Mädchen mit beinahe angehaltenem Atem flüsterte: "Da. Eine Spinne." Und dann sahen wir das Tier: Eine kleine Spinne, vermutlich eine so genannte Zartspinne, hing reglos an ihrem Faden etwa zwei Handbreit unter einem Finger des Mädchens. Die anderen Kinder betrachteten das Tier erstaunt und wohl auch etwas furchtsam, aber alle waren von der Szene fasziniert. Sie bewunderten auch ihre Klassenkameradin, erst ihren Mut, dann ihre Geduld.

Und dann kam, was kommen musste: Jeder wollte jetzt auch einmal die Spinne halten, und das Mädchen übergab den Spinnfaden vorsichtig einem der anderen Kinder, vermittelte dabei ganz nebenbei die nötige Ruhe und Bedachtsamkeit, und schließlich wanderte die kleine Spinne so im Kreis der Kinder herum.

Dieser kleine Vorfall hatte für alle Beteiligten etwas sehr Eindringliches, und die Kinder unterhielten sich auch später noch ausgiebig darüber. Sie wollten mehr über Spinnen und ihre Lebensweise erfahren, und es kam auch zu einem langen Gespräch über die Angst der Menschen vor Tieren und die Angst der Tiere vor Menschen.

In einem anderen Fall, der auf vielleicht leichter nachvollziehbare Weise die Bedeutung von Tieren für die psychische Entwicklung von Kindern zeigt, geht es um zwei Meerschweinchen, die in einem "Spielezimmer" einer Ganztagesschule gehalten wurden. Aufgrund bestimmter Hygienevorschriften war das anfangs nicht ganz unumstritten, aber da die Tiere gut versorgt wurden, gehörten sie bald ganz selbstverständlich zum Schulalltag - für einige Kinder jedenfalls, denn immer wenn der Raum den Kindern zur Verfügung stand, vor allem in der Mittagszeit, suchten ganz bestimmte Kinder die Nähe der Meerschweinchen. Die Betreuerin des Spielezimmers konnte dabei beobachten, dass einige dieser Kinder vor allem dann kamen, wenn sie sich sehr einsam fühlten oder irgendwelche Probleme hatten. Ein Junge etwa, der aus verschiedenen Gründen immer wieder Ärger mit Lehrkräften und Klassenkameraden hatte, war schon glücklich, wenn er nur ungestört neben den Tieren am Boden sitzen und ihnen zuschauen konnte.

Natürlich kamen keineswegs nur Kinder, die sich einsam oder traurig fühlten, zu den Meerschweinchen. Manche waren auf die Tiere einfach neugierig, wollten sie kraulen oder mit ihnen zu spielen, sie füttern oder sich in anderer Weise um ihr Wohlbefinden kümmern: Ein etwas älterer Junge baute z.B. im Lauf mehrerer Wochen immer ausgefeiltere Holzhäuschen, damit die Meerschweinchen mehrere angenehme Versteckmöglichkeiten hätten.

Viele Kinder beginnen auch sehr früh, sich für die Lebensweise von Tieren näher zu interessieren. Natürlich steht hier häufig ein Haustier im Vordergrund, das man auch streicheln kann, aber auch unscheinbarere Tiere wie Kröten, Regenwürmer oder Schnecken ziehen Kinder in den Bann.

In einer Kinderkrippe befüllen die Erzieherinnen deshalb mit den Kindern immer wieder einen so genannten "Regenwurmkasten" (Lumbricarium). In einen selbst gebauten U-förmigen Holzrahmen, dessen Seitenwände aus Plexiglas sind, werden schichtweise verschiedene Materialien eingefüllt: Lehm, Blätter, Kompost, Sand, feiner Kies, Walderde, Rindenstückchen, Gras usw. Die Mächtigkeit der einzelnen Schichten sollte nicht mehr als etwa 1 bis 3 cm betragen, und außerdem darf das Material nicht zu trocken sein. Zuletzt setzt man einige Regenwürmer auf die oberste Schicht und deckt den Kasten für einige Stunden ab (Verdunkelung).

Meist kann man dann gut beobachten, wie die Würmer sich in die Tiefe graben und das Material dabei nach und nach vermischen. Je nach Befüllung, Temperatur und Feuchtigkeit der einzelnen Bestandteile kann so ein Regenwurmkasten von den Kindern als Forschungsobjekt über viele Tage genutzt werden - bis man den Inhalt samt Würmern wieder in den Garten bringt.

Die Grundidee dieses Modells ist einfach, aber wenn die Regenwürmer in dieser künstlichen Umgebung längere Zeit leben und sich vielleicht sogar vermehren sollen, müssen die verschiedenen Faktoren doch gut aufeinander abgestimmt sein. Das erfordert eine ökologische, systemische Betrachtungsweise, und gleichzeitig wird diese durch das eigene Handeln entwickelt und verstärkt.

Die Kinder in dieser Einrichtung lieben jedenfalls dieses Modell und sammeln inzwischen bereits mit anderen Kleintieren ihre Erfahrungen: mit der Anzucht von Schmetterlingen, einem Modell zur Beobachtung von Ameisen oder einem Kistenaquarium mit Köcherfliegenlarven. Besonders bewährt hat sich dafür auch der Einsatz eines Binokulars (Stereolupe), mit dem die Kinder die Tiere genauer betrachten und beobachten können.

Die Grenzen zwischen Naturbeobachtung im wissenschaftlichen Verständnis und atemlosem Staunen sind aber selten deutlich und verschwimmen oft rasch: Geht es anfangs noch um technische Fragen wie die richtige Einstellung des Geräts oder die Frage, ob ein Tier besser in einer Schale mit oder ohne Deckel unter das Objektiv gesetzt wird, so stellt sich dann meist rasch eine selbstvergessene Konzentration ein. Die Kinder bewundern die plötzlich ganz scharf zu erkennenden Strukturen eines Libellenflügels, die Zeichnung auf den Flügeldecken einer Wanze, die zitternden Kiemen einer Steinfliegenlarve oder die rüstungsartigen Ringe einer Kugelassel. "Die Kraft des Träumens ist an die Vielgestaltigkeit der Tiere gebunden" (Canetti).

Dimensionen der Naturerfahrung

Die ausgewählten Beispiele verdeutlichen drei ganz unterschiedliche Aspekte, wie Kinder an Tiere herangehen bzw. überhaupt mit ihnen in Kontakt kommen. Alle drei Aspekte sind wichtig und haben - abhängig vom Alter der Kinder, Zeit und Gelegenheit - ihren Stellenwert. Führt im ersten Fall eine beiläufige Beobachtung und Entdeckung zum Staunen über eine so ganz andere Welt des Lebens - und daran anschließend vielleicht zu Selbstreflexion und kommunikativem Austausch -, so wird im zweiten Bespiel der Wert von Zuverlässigkeit, Fürsorge und emotionaler Wärme in der Beziehung zu Tieren besonders deutlich. Das dritte Beispiel schließlich zeigt den kognitiven Zugang von Kindern zu Tieren und bekräftigt, wie früh Kinder sich bereits mit konkreten Fragen von Biologie und Ökologie auseinander setzen.

Wer sie darin fördern und unterstützen will, wird sich vielleicht auch Beispielen aus der Bionik zuwenden. Diese Wissenschaft befragt Formen und Eigenschaften der Natur, von Tieren und Pflanzen, um sie für uns Menschen nutzbar zu machen: Was macht Spinnennetze stabil? Wie läuft eigentlich ein Hundertfüßer? Warum haben Eichhörnchen einen so kräftigen Schwanz? Solche und andere, eher "technische" Fragen sind für viele Kinder spannend und können auch Erwachsene ganz schön ins Grübeln bringen.

Das Alter der Kinder spielt natürlich eine entscheidende Rolle, auf welche Weise sie sich Tieren zuwenden. Viele Forscher nehmen an, dass Kinder sich des Unterschiedes zwischen Mensch und Tier (noch) nicht klar bewusst seien und deshalb zu Tieren Beziehungen wie zu Menschen knüpfen (Gebhard). Auch wenn im Einzelfall die Gefahr besteht, dass Heimtiere gelegentlich zum Ersatz für soziale Beziehungen werden (was natürlich nicht nur auf Kinder zutrifft), so sind trotzdem die direkten emotionalen und psychischen Erfahrungen, die Kinder mit Tieren machen können, bedeutsam.

Tiere haben aber auch eine hohe symbolische Bedeutung, die in vielen Aspekten unserer Kultur zum Ausdruck kommt. Die Zuschreibung von Eigenschaften, wie wir sie in unserer Alltagssprache und in Sprichwörtern finden ("flink wie ein Wiesel", "schlauer Fuchs" usw.), schaffen und erleichtern später auch Identifikations- und Selbstfindungsprozesse.

Diese Symbolwelt steht in enger Beziehung zum Anthropomorphismus - von Piaget als "animistisches Denken" bezeichnet - und umfasst nicht nur die Welt der Tiere, sondern auch Steine, Pflanzen oder Naturereignisse. Es handelt sich sicherlich nicht um eine bewusste Überzeugung, sondern eher um eine innere Ausrichtung. Zudem deuten Kinder die Welt nicht nur und ständig anthropomorph. Die Auseinandersetzung mit dem Ich-Bewusstsein und äußeren Gegebenheiten findet wechselweise statt, die beiden Prozesse fördern sich gegenseitig. Der Entwicklungspsychologe Busemann geht sogar so weit zu sagen, dass die Möglichkeit, Natur zu erleben, zum "seelischen Existenzminimum" des Menschen gehöre.

Angst und Ekel vor Tieren?

Es fällt immer wieder auf, dass Kinder in den ersten Lebensjahren auf die typischen Angst- oder Ekeltiere wie Maus, Spinne oder Kröte nur sehr selten Abwehr- oder Panikreaktionen zeigen. Meist überwiegt die Neugier, und die Kinder greifen nach diesen Tieren oder wollen sie fangen. Es gibt aber auch deutliche Hinweise auf eine angeborene Disposition für Angst vor bestimmten Tieren. Nahezu unabhängig von der Kultur löst eine kleine Gruppe von Tieren bei den weitaus meisten Menschen Ekel und Angst aus. Dazu gehören Schlangen und Spinnen, aber auch Würmer und Ratten. Merkwürdigerweise ist es aber so, dass Kinder bis etwa zum 3. Lebensjahr auch auf solche Tiere angstfrei reagieren, und man vermutet heute, dass es sich um einen angeborenen Schutzmechanismus handelt, der sich erst im Lauf der ersten Lebensjahre voll ausbildet. Alle späteren Verhaltensweisen und Reaktionen eines Menschen auf solche Tiere sind allerdings stark von kulturellen Erfahrungen geprägt.

Im Unterschied zur Angst vor Tieren enthält der Ekel, auch wenn er mit Angst vermischt sein mag, eine stark körperliche Komponente: deutlich empfundene Abscheu, der eng an unseren Geschmacks-, Geruchs- oder Tastsinn geknüpft ist. Ekel ist ein "sinnlicher Widerwille" (Grimms Wörterbuch). Es ist sehr wahrscheinlich, dass insbesondere der Ekel vor bestimmten Tieren in hohem Maß von der Kultur, in der Menschen aufwachsen und leben, abhängig ist. Ekelreaktionen treten nämlich bei Kindern meist erst mit vier bis fünf Jahren auf und sind am ehesten als Ausdruck einer bestimmten Reinlichkeitserziehung zu sehen.

Wie sollte man aber - aus pädagogischer Sicht - nun mit Angst- und Ekelreaktionen auf Tiere umgehen? Die Entscheidung, dem jeweiligen Tier oder einer bestimmten Situation grundsätzlich auszuweichen, mag zwar individuell richtig sein, aber es ist sicherlich keine sinnvolle pädagogische Haltung beispielsweise im Zusammenhang mit naturkundlichen Projekten in einem Kindergarten oder gar im Biologieunterricht in der Schule. Im Gegenteil: Es ist unbestritten, dass Naturerlebnisse und Umweltbildung im weitesten Sinn gerade durch möglichst viel "originalen" Kontakt mit der lebendigen Natur am nachhaltigsten und besten vermittelt werden.

Es wäre unaufrichtig, dabei nur an die gefällige, romantisch verklärte Natur zu denken und alles Ängstigende, Unangenehme auszuklammern. Vielmehr kommt es darauf an, sich auch Angst und Ekel bewusst zu machen und aushalten zu lernen. Kinder erfahren dann, dass solche Gefühle sein dürfen, dass sie kein unpassendes Verhalten darstellen und nicht mit zusammengebissenen Zähnen unterdrückt werden müssen. Es handelt sich dabei um einen Lernprozess, der weit über die Kindheit hinausweist: Wer niemals Gelegenheit hatte, sich seinen negativen Affekten gegenüber bestimmten Insekten oder Spinnen zu stellen, wird später vermutlich keine allzu großen Hemmungen haben, Biozide gegen Kleintiere einzusetzen und die Objekte seiner Angst bedenkenlos zu töten.

Innere und äußere Natur

Sowohl bei den angenehmen, beglückenden Erfahrungen, die Kinder in und mit der Natur machen, als auch bei den Angst auslösenden Situationen lässt sich eine Entsprechung von innerer und äußerer Natur finden. Beides gehört zum menschlichen Leben und zu seinen Entwicklungs- und Reifungsprozessen. Die animistische Tendenz im kindlichen Denken wird durch ein objektivierendes Denken nicht einfach abgelöst, sondern überlagert und ergänzt. Es wäre falsch, anthropomorphes und naturwissenschaftliches Denken dabei stets als Gegensätze zu begreifen. Es sind zwar zwei verschiedene Sichtweisen, mit denen wir Menschen uns die Welt erfahrbar machen, aber so, wie sich in anthropomorphe Deutungen kognitive Erklärungen mischen, enthalten andererseits noch die sachlichsten Zugänge zu bestimmten Naturphänomenen wichtige affektive Komponenten. Die "Lesbarkeit der Welt" (Blumenberg) erfordert jedenfalls mehr als bloße Wahrnehmung: Sie drückt unser Bedürfnis aus, die Welt und die Natur zu verstehen.

Autor

Herbert Österreicher, Dipl. Ing. (FH), München, www.kinderfreiland.de; Durchführung von Seminaren und Exkursionen zur Umweltbildung, Beratung, Planung und Gestaltung von Spielgärten für Kinder, Autor für verschiedene Fachzeitschriften und Verlage.

Buchpublikationen: "Kinder wollen draußen sein" (Kallmeyer-Verlag, 2006; Co-Autorin Edeltraud Prokop) und "Natur- und Umweltpädagogik für sozialpädagogische Berufe" (Bildungsverlag Eins, 2006; Lehrbuch)