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Zitiervorschlag

Sprachförderung in Kindertagesstätten vor dem Übergang in die Grundschule

Evelyne Höhme-Serke und Sascha Wenzel

 

Sprachförderung in Kindertagesstätten folgt inzwischen einer veränderten Vorstellung von elementarer Bildung, der pädagogische Konzepte zugrunde liegen, die sich auf die ganzheitliche Förderung allgemeiner, sachbezogener und sozialer Kompetenzen beziehen. Damit nähern sich Erzieher/innen in Kindertagesstätten einem Bildungsverständnis, das nicht allein auf die vermeintlichen oder tatsächlichen Bedürfnisse der nachfolgenden Institution Schule blickt.

Bildung in Kindertagesstätten geschieht heute so gut - besser vergleichsweise so gut -, dass Kinder vor allem aus unterprivilegierten Familien, die über mehrere Jahre hinweg Kindertagesstätten besuchten, in der Grundschule besser lesen können, ohne dass sie vorab gezielt, gar schulvorbereitend zum Lesenlernen angehalten wurden (*).

Für die Sprachförderung in Kindertagesstätten können aus diesem kurzen Absatz fünf Überzeugungen herausgelesen werden:

  1. Kinder lernen ständig, egal, wie gut sich ihre Umwelt darauf einstellt. Sie tun das von selbst, jeden Tag und auch dann, wenn sich kein Erwachsener darum kümmert. Es lohnt sich vor allem für die Kinder, wenn in der Kita (und der Grundschule) an diesen alltäglichen Aneignungsprozessen angeknüpft und zudem verstanden wird, dass hierbei Eltern besonders wichtige Partner sein können.
  2. Kinder sollten in der Kita in jeder erdenklichen Weise dazu eingeladen werden, mit ihren Erzieher/innen, vor allem aber miteinander, über alles zu reden, was ihnen wichtig ist.
  3. Die Entwicklung der Sprachkompetenz von Kindern muss in der Kita systematisch unterstützt werden. Dies kann niemals isoliert für sich, sondern nur im Einklang mit der Förderung anderer Kompetenzen geschehen: sachbezogener genauso wie sozialer oder lernmethodischer.
  4. Kindertagesstätten haben Grundschulen nichts zu "liefern", aber gemeinsam mit ihnen Verantwortung für den langfristig gestalteten Übergang von Kindern aus der einen in die nächste Bildungseinrichtung zu übernehmen. Erzieher/innen und Lehrer/innen können dabei viel voneinander lernen und ihr Praxiswissen teilen, besonders (aber nicht nur) dann, wenn die Schuleingangsphase flexibler und das Lernen ganztägig organisiert werden.
  5. Kinder sind verschieden. Sie haben verschiedene sprachliche, kulturelle, soziale und familiäre Hintergründe. Sie können unterschiedliche Dinge unterschiedlich gut (nicht unterschiedlich schlecht). Manche von ihnen lernen bereits in der Kindertagesstätte, Anfangsbuchstaben und -laute zu erkennen, andere können bereits mehr als ihren Namen lesen oder schreiben, und dritte brauchen viel mehr Hilfe, wenn es darum geht, Bilder zu beschreiben oder auszuhandeln, wer wie lange ein wirklich beliebtes Spielzeug benutzen darf.

Sprachförderung verstehen wir folglich als integrierten Bestandteil der pädagogischen Tätigkeit im gesamten Tagesablauf einer Kindertagesstätte. Sie zielt auf alle Kinder, unabhängig ihres Sprachstandes und ihrer Erstsprache, und kann nicht allein als Fördermaßnahme für Kinder mit sprachlichen Defiziten gedacht werden. Es geht vielmehr darum, jedes Kind auf seinem Weg zur Sprache zu unterstützen.

Sprachförderung bedeutet auch, dass sich Kinder in grundlegenden Kulturtechniken üben, wie dem Betrachten von Bildern, dem Erfinden, Erzählen und Weitergeben von Geschichten. In diesen Geschichten vergewissern sie sich ihrer eigenen Lebenssituation, ihrer Erfahrungen und ihrer Vorstellungswelten. Kinder lernen auf diese Weise einander kennen und verstehen, dass sie sich von anderen Kindern unterscheiden, aber auch Gemeinsamkeiten haben (Der Ansatz bezieht sich damit auf den Wechsel in der sozial-kognitiven Entwicklung Fünf- bis Sechsjähriger von einer egozentrischen Perspektive, in der sie zwar Unterschiede zwischen sich und anderen benennen, aber nicht zwischen Handlungen und Motiven unterscheiden können, hin zu einer differenzierteren Perspektive, in der sie erkennen, dass der andere eine besondere, durch seine Erfahrungen und sein Denken begründbare Perspektive besitzt).

Für gezielte Sprachförderung im Kindergarten gilt zudem: Das Kind wird als handelndes Subjekt verstanden, das vielfältige Kompetenzen und eigene Rechte hat. Von Anfang ihres Lebens an mit einem Forscherdrang ausgestattet, besitzen Kinder umfassende Fähigkeiten, sich selbst zu bilden. Sie eignen sich die Welt aktiv an und nutzen dafür alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten (vgl. Grundsätze elementarer Bildung in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung im Land Brandenburg, Ausgabe 2004). Sich zu bilden ist damit eine Tätigkeit, bei der Kinder das aufnehmen, was um sie herum geschieht, und dieses zu einem inneren Bild der Wirklichkeit verarbeiten. Für Kinder ist wichtig, dass das, was sie lernen, für sie eine Bedeutung hat. Kinder brauchen die Motivation von Erwachsenen nicht, um zu lernen. Sie müssen aber einen Sinn darin sehen, was sie lernen. Kinder lernen über vielfältige Sinneserfahrungen, durch eigenes Erleben, durch Ausprobieren. Sie sind darauf angewiesen, die Welt um sie herum zu verarbeiten, um darin handlungsfähig zu sein (vgl. Berliner Bildungsprogramm, S. 20). Dabei stehen sie im permanenten Austausch mit ihrer Umgebung; Kommunikation spielt eine wichtige Rolle. In den unzähligen alltäglichen Aushandlungen miteinander klären sie mithilfe von Sprache auch ihre Beziehungen untereinander.

Der Erwerb von Sprache geschieht in einem sozialen Kontext. Kinder entwickeln und erweitern ihre Sprachkompetenzen mit den Bedingungen, in denen sie aufwachsen, und mit den Beziehungen, die ihnen angeboten werden. Für Kinder ist der Inhalt ihrer sprachlichen Botschaft von Bedeutung. Nach Watzlawick hat Kommunikation zwei Seiten, eine inhaltliche und eine Beziehungsseite. "Der Beziehungsaspekt ist der Schlüssel für die Bereitschaft und Fähigkeit des Gegenübers, den Inhalt einer Botschaft aufzunehmen" (Fuchs/ Siebers 2002, S. 15). Kinder sind dann besonders sprechfreudig, wenn ihnen Zuwendung und Interesse an ihrer Person gezeigt wird und wenn sie das Gefühl haben, ernst genommen zu werden. Kinder brauchen Erwachsene, die aufmerksam hören, was sie zu sagen haben und nicht, was die Erwachsenen hören wollen. "Das Erleben seiner selbst als sprachkompetentem Subjekt ist darauf angewiesen, dass es gehört wird" (Jampert 2002, S. 51). Hier wird deutlich, dass komplementär zu der Person, die sich sprachlich äußert, auch jemand gehört, der/die das Gesagte aufnimmt, spiegelt und weiterführt. Zur sprachlichen Kompetenz gehört also auch die Fähigkeit zuzuhören.

Aus diesen Gründen spricht sich das Eberswalder Projekt "Demokratie leben in Kindergarten und Grundschule" gegen eine Sprachförderung aus, die Sprache in formalisierter Form trainiert. Ein von Handlungen und Beziehungen isoliertes Trainingsprogramm trägt nicht dem Umstand Rechnung, dass Kinder ihre Sprachkompetenzen im kommunikativen Kontext alltäglicher Situationen entwickeln. Bildung erfolgt in sozialen Zusammenhängen, nicht in Teilstücken zergliederter Wissensvermittlung (vgl. Zimmer 2000, S. 15). Nach Laewen und Andres (Andres/ Laewen 2005, S. 8) fördert gezielte sprachliche Unterweisung überdies nicht nachhaltig das Lernen: "Trainingsprogramme, die ohne Berücksichtigung der Interessen der Kinder stattfinden, zeigen zwar unmittelbare Erfolge, verlieren sich jedoch mittelfristig wieder" (a.a.O.). Hingegen verlieren sich Kompetenzen nicht, die aufgrund von Interessen und intrinsisch motivierten Aktivitäten der Kinder angeeignet werden (a.a.O.).

Kinder lernen Sprache nicht um ihrer selbst willen, sondern als Mittel, um etwas zu erreichen und weil sie Inhalte vermitteln wollen (vgl. Jampert 2002, S. 21). Mit Hilfe von Sprache strukturieren und systematisieren Kinder Erkenntnisse. So ist die Sprache auch ein Medium des kindlichen Zugangs auf die Umwelt. Sprache wird vom Kind als Einheit zusammen mit Handlung und Situation erfahren (vgl. a.a.O., S. 20). Die Stimmigkeit der grammatischen Form oder der Aussprache hat für Kinder einen untergeordneten Stellenwert. Wenn Erwachsene - wohlwollend in der Intention, die Kinder zu unterstützen - versuchen, die formale Seite der Sprache hervorzuheben, reagieren sie häufig sensibel und unwillig. "Sobald der Gesprächspartner die sprachliche Form aufgreift und verbessert, registriert das Kind, dass der Inhalt seiner Mitteilung in den Hintergrund gedrängt wird, und sieht darüber seine Interessen verletzt" (a.a.O., S. 22). Unter Umständen kann dies dazu führen, "dass sie sich von der Sprache als Ausdrucksmittel distanzieren. Die Sprache erscheint den Kindern dann als Zwang und nicht als Mittel für die Realisierung ihrer Bedürfnisse" (a.a.O., S. 23).

Sprachförderung muss also an Handlungszusammenhänge gekoppelt sein und muss die Lebensrealitäten aufgreifen, die Interessen und Bedürfnisse der Kinder wahr- und ernst nehmen und sich auf Deutungen von Kindern einlassen.

In diesem Zusammenhang sei abschließend noch auf einen besonders wichtigen Aspekt hingewiesen, der sich auf die Fähigkeit von Erwachsenen bezieht, Kinder beobachten zu können: "Nur über eine gezielte und kontinuierliche Wahrnehmung der Kindersprache kann ein Eindruck erwachsen, wie die Kinder mit ihren sprachlichen Kompetenzen umgehen und ob sich im Verlauf der Zeit Veränderungen wahrnehmen lassen. Unterschiede zwischen den Kindern werden deutlich. (...) Auf diese Weise kann sich ein Erfahrungsschatz bei Erzieherinnen bilden, der ihnen Sicherheit und Kompetenz in der Einschätzung von kindlichem Sprachverhalten vermittelt" (Jampert 2002, S. 135).

Anmerkung

Zur allgemeinen Sprachförderung empfehlen wir die "Lern- und Spielmappe für Vorschulkinder" von Bärbel Merthan und Sascha Wenzel, erschienen 2005 im Forum Verlag Herkert, siehe www.forum-verlag.com/spielmappe.

Fußnote

(*) Die positive Auswirkung auf die Lesekompetenz bei Grundschülern, die den Kindergarten länger als ein Jahr besuchten und deren Eltern aus den sogenannten unteren und niedrigsten Dienstklassen (beispielsweise un- und angelernte Arbeiter, Landarbeiter) kommen, ist dokumentiert in: W. Bos u.a. (Hrsg.): Erste Ergebnisse aus IGLU. Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich. Waxmann Verlag 2003, S. 127-130

Nur 3 bis 5 Prozent der Kinder können beim Eintritt in die Grundschule lesen. Vgl.: E. Neuhaus-Siemon: Mädchen und Jungen kommen als Leser zur Schule... In: H. Brüggemann (Hrsg.): Mädchen lernen anders als Jungen. Geschlechtsspezifische Unterschiede beim Schriftsprachenerwerb. Bottighofen: Libelle 1994, S. 66-70

Literatur

Andres, Beate/ Laewen, Hans-Joachim/ Pesch, Ludger (Hrsg.) (2005): Elementare Bildung. Handlungskonzept und Instrumente, Band 2. Weimar, Berlin: verlag das netz

Berliner Bildungsprogramm für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen bis zu ihrem Schuleintritt. Berlin 2004

Fuchs, Ragnhild/ Siebers, Christiane (2002): Sprachförderung von Anfang an. Köln: Sozialpädagogisches Institut des Landes Nordrhein-Westfalen

Grundsätze elementarer Bildung in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung im Land Brandenburg, Ausgabe 2004

Karin Jampert (2002): Schlüsselsituation Sprache. Spracherwerb im Kindergarten unter besonderer Berücksichtigung des Spracherwerbs bei mehrsprachigen Kindern. Opladen: Leske + Budrich

Karin Jampert (2003): Aufwachsen mit mehreren Sprachen. In: Eva Hammes-Di Bernardo/ Pamela Oberhuemer (Hrsg.): Startchance Sprache. Sprache als Schlüssel zur Bildung und Chancengleichheit. Jahrbuch 8 des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes, S. 49-59

Jürgen Zimmer (2000): Das kleine Handbuch zum Situationsansatz. Weinheim, Basel: Beltz

Autor/innen

Sascha Wenzel, 1963 in Berlin geboren. Ausbildung zum Lehrer bis 1984, anschließend Arbeit an verschiedenen allgemein bildenden Oberschulen und in einer Einrichtung der Lehrerausbildung. Fernstudium Philosophie von 1990 bis 1994. Seit 1991 mit einer halben Stelle pädagogischer Mitarbeiter in der neu gegründeten RAA Berlin - einer Agentur für Schulentwicklung und -beratung - und weiterhin Lehrer an einer Grundschule. Seit 2000 gemeinsam mit Evelyne Höhme-Serke Projektleiter des Eberswalder Projektes "Demokratie leben in Kindergarten und Grundschule" und seit 2002 des Berliner Vorhabens im BLK-Programm "Demokratie lernen und leben".

Evelyne Höhme-Serke, geboren 1956 in Berlin, Lehramtsstudium von 1975 bis 1981 an der Pädagogischen Hochschule Berlin, Abschluss mit 1. Staatsexamen. Von 1981 bis 1986 Erzieherin in Kindertagesstätten in Berlin-Kreuzberg. Studium der Erziehungswissenschaften und Soziologie von 1986 bis 1991, Abschluss als Erziehungswissenschaftlerin M.A. Von 1998 bis 2004 Ausbildung zur Psychodramaleiterin. Langjährige freiberufliche Tätigkeit in der Lehrerausbildung an der TU Berlin, in Fortbildung und Beratung von Sozialpädagog/innen, Lehrer/innen und Erzieher/innen und in Projekten. Seit 2002 gemeinsam mit Sascha Wenzel Leiterin des Projektes "Demokratie leben in Kindergarten und Grundschule" in Eberswalde.