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Zitiervorschlag

Aus: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS), Heft 5/2004

Wenn die Worte nur so aus einem heraus fließen... Warum eine dialogische Haltung die Sprache fördert

Lothar Klein

 

Jeder hat es wahrscheinlich schon einmal erlebt, so sehr in ein angenehmes Gespräch vertieft zu sein, dass alles um einen herum versinkt. Die Hintergrundgeräusche sind plötzlich verschwunden und die Worte fließen. Das passiert z.B. wenn man sich mit einem Freund oder dem Partner gut versteht und ins Reden kommt, in der Kneipe, zu Hause auf dem Sofa oder beim Spazieren gehen. "Sich gut verstehen" bedeutet, man fühlt sich verstanden und versteht gleichzeitig den anderen, der wiederum das gleiche empfindet. Wir spüren den gegenseitigen Kontakt, ein sehr schönes, zuweilen sogar erhebendes Gefühl.

Der Philosoph und Professor für jüdische Religionswissenschaft Martin Buber (1878-1965) würde ein solches Gespräch als "Begegnung" bezeichnen. Eine Begegnung findet nur statt, wenn beide Seiten gleichzeitig sowohl bei sich selbst als auch beim anderen sind. Martin Buber nannte dies das "echte Gespräch" oder den Dialog.

Der Dialog braucht Sicherheit

Wieso aber kommt es im Alltag nur selten zu einem solch "echten Gespräch"? Wir kennen die Antwort aus eigener Erfahrung. Es braucht Vertrautheit, Vertrauen, Verlässlichkeit. Der Dialog braucht Sicherheiten. Zum Beispiel die, dass der Gesprächspartner mich nicht verändern will, dass ich also so bleiben darf, wie ich bin. Oder die, dass ich mich nicht für meine Sichtweisen oder Gedanken rechtfertigen muss, weil der Gesprächspartner möglicherweise auf seiner eigenen Wahrheit beharrt. Nötig ist auch die Gewissheit, dass mein Gesprächspartner die Informationen, die ich ihm über mich liefere, nicht für Dinge ausnutzt, die ich gar nicht will. Wenn ich diese Vermutung hege, ziehe ich mich zurück und schweige lieber.

Der dänische Schriftsteller Peter Høeg hat diesen Zusammenhang einmal so formuliert: "Die Ansicht, dass Kinder offen sind, dass ihr inneres Wesen sozusagen pur aus ihnen heraus sickert, ist weit verbreitet. Das ist falsch. Niemand hält sich bedeckter als ein Kind, niemand muss es so sehr sein. Als Antwort auf eine Welt, die dauernd mit dem Büchsenöffner ankommt, um nachzusehen, was es in sich hat, und um festzustellen, ob es nicht vielleicht gegen eine gängige Konserve eingetauscht werden sollte."

Kurz gesagt: ich muss vertrauen können. Die Sicherheit, dass ich so bleiben kann, wie ich bin, lässt mich offen werden. Dann muss ich nicht mehr aufpassen, was ich wie zu wem sage. Dann fließen die Worte und die Gedanken. Im Alltag aber erleben wir häufig ganz andere Gesprächssituationen. Fast jeder kennt beispielsweise die prüfenden Blicke anderer, die auf einem ruhen, wenn man eine Frage stellt, die einen selbst gerade bewegt, aber nicht die anderen. Nicht selten werden dann Augen gerollt. Ungeduld, Überheblichkeit, Besserwissen werden dem Fragenden entgegengebracht. Manchmal kostet es richtige Überwindung, eine Frage überhaupt zu stellen, und sie bleibt unausgesprochen.

Ganz anders wäre es, wenn, wie im Dialog oder echten Gespräch, die Gesprächspartner das Gefühl vermitteln, dass meine Zweifel und Fragen, meine Gedanken und Sichtweisen willkommen sind, dass echtes Interesse daran besteht. "Was hast du gemacht? - Jemand stellte die Frage zornig, jemand besorgt, jemand misstrauisch, jemand drohend. Aber jemand fragte unbeschwert neugierig. Das machte die Antwort leicht" (Autor unbekannt).

Und der französische Freinet-Pädagoge Paul Le Bohec hat einmal zum Zusammenhang von freiem Ausdruck und Sicherheit geschrieben: "Man muss sehen, dass bis heute wenige Leute Zugang zu einem echten freien Ausdruck von Kindern haben... Er blüht auf, sobald ein Minimum günstiger Bedingungen zusammentrifft: sehr viel Zeit, Werkzeug, Raum, Aufmerksamkeit, Respekt, Freiheit und die Bereitschaft, Kinder vor den Bewertungen durch Erwachsene zu schützen... Aber im allgemeinen hindert die Kinder die Zensur ihrer sozialen Umgebung daran, sich frei auszudrücken... (Denn) der Wunsch sich frei auszudrücken ist enorm groß. Aber dies gilt in gleichem Maße für das Bestreben nach Sicherheit..."

Die Bereitschaft, mich vom anderen beeinflussen zu lassen

Den Dialog müssen wir uns wie eine Spirale vorstellen, die beständig weiter wird. Ich sage etwas, was vom Gesprächspartner aufgegriffen wird und wieder einfließt in das, was er mir nun mitteilt. Das wiederum erreicht meine Gedanken und Äußerungen usw. Im Dialog spürt jeder bei sich selbst die Bereitschaft, sich vom anderen beeinflussen zu lassen, offen zu sein für das Denken, die Gefühle und die Worte des anderen. Es kommt zur gegenseitigen Ergänzung. Wenn das eintritt, dann fühle ich mich verstanden und gesehen. Dann kann ich meine Vorsicht ablegen und mich frei äußern.

Kindern die Bereitschaft entgegenzubringen, sich von ihnen beeinflussen zu lassen, fällt Erwachsenen wegen ihres großen Erfahrungs- und Wissensvorsprungs nicht leicht. Was ihnen fehlt, ist das, was Dialog-Forscher den "radikalen Respekt" nennen. Respekt ist für sie aktiver als Toleranz. Respekt lässt nicht nur gelten, sondern versucht, aktiv zu verstehen und die Welt aus der Perspektive des anderen zu sehen. Respekt akzeptiert nicht nur die "andere Welt" der Kinder als gegeben, sondern bringt ihr Anerkennung und Wertschätzung entgegen, und zwar nicht nur vordergründig pädagogisch motiviert, sondern aus der wahrhaften Erkenntnis heraus, dass Kinder etwas zu sagen haben.

Die Ernsthaftigkeit, mit der Kinder Selbstverständliches in Frage stellen und versuchen, sich die Welt zu erklären, überhaupt wahrzunehmen, ist für manche Erwachsene eine wirkliche Herausforderung. Erklärungen und Fragen von Kindern, zumal solchen im Kindergartenalter, klingen in Erwachsenenohren ja tatsächlich manchmal sehr seltsam, witzig oder naiv. Zu schnell neigen Erwachsene in der Folge dazu, kindliche Äußerungen als "kindisch" oder ahnungslos abzutun. Viele echte Gespräche mit Kindern werden schon bevor sie überhaupt beginnen könnten abgewürgt, weil Erwachsene sich erst gar nicht darauf einlassen.

Fließt Wasser aus dem Eis, wenn das Eis taut?

Ein Beispiel: Daniela (4) und Sebastian (3) machen einen Winterausflug. An einem zugefrorenen Weiher brechen sie ein Stück Eis ab und nehmen es mit in den Kindergarten. Unterwegs stellen sie fest, dass ihre Hand ganz nass wird. Eine Erklärung suchend fragt Daniela die Erzieherin: "Was macht das Wasser im Eis?" Nehmen wir an, die Erzieherin antwortet: "Das ist nicht im Eis. Das Eis taut. Leg es jetzt bitte weg, deine Handschuhe werden ganz nass, und dann frierst du." Solche Äußerungen rutschen ihr einfach so raus. Sie sind Routine. Sie liegen sozusagen in Sekundenschnelle auf der Zunge, und ehe sie sich versieht, ist ein möglicher Dialog im Keim erstickt.

Ganz anders kann das Gespräch verlaufen, wenn die Erzieherin ein Gespür für die Ernsthaftigkeit der Überlegungen von Daniela entwickelt hat und sich dialogisch darauf einlassen kann, bereit, den Kindern Respekt entgegen zu bringen. Sie reagiert also aufmerksam und fragend auf Danielas Hypothese. Sie will ihren Gedankengang verstehen. "Als ihr das Eis abgebrochen habt, sah es trocken aus, das stimmt. Und jetzt fragst du dich, woher das Wasser kommt, von dem das Eis nass geworden ist, und du meinst, das ist innen drin verborgen?" Das Gespräch kommt auf diese Weise in Gang. Sebastian meint: "Das kommt vielleicht von deiner Hand, Daniela." - Daniela: "Nein, es fließt doch aus dem Eis heraus." Sebastian: "Aber wie kommt es denn da rein?" - Daniela: "Das ist bestimmt Wasser vom Teich. Wir müssen es vom Teich mitgenommen haben. Wir haben nicht aufgepasst, als wir das Eis abgebrochen haben." Erzieherin: "Kommt, wir wischen es mal ab und sehen was passiert." usw.

Die Haltung einer Lernerin

Die Erzieherin, die auf diese Weise reagiert, tut dies nicht in erster Linie mit der pädagogischen Absicht, die Kinder zum Forschen anzuregen. Das mag dabei vielleicht auch im Spiel sein. Ihre dialogische Haltung drückt sich aber darin aus, dass sie versucht, die Überlegungen der Kinder wirklich nachzuvollziehen und ihren Wahrheitsgehalt zu ergründen. Sie nimmt sie tatsächlich ernst! Dass im Eis Wasser ist, wird niemand bestreiten, und dass es in irgend einer Weise "heraus fließt" auch nicht. Eine ganz andere Sache ist, dass Erwachsene dafür andere Worte benutzen und dass es natürlich auch nicht ganz richtig ist, was die Kinder vermuten. Aber was ist schon "ganz richtig"?

Die Erzieherin nimmt die Haltung einer Lernerin ein, wie es die Dialog-Forscher bezeichnen. Sie entdeckt dabei selbst neue und eigene Fragen, z.B. die, was genau passiert, wenn man das Wasser des tauenden Eises wegwischt und das Eis abtrocknet. Und dann tauchen möglicherweise weitere Fragen auf: Warum eigentlich taut das Eis auf dem See nicht von unten, obwohl das Wasser doch offensichtlich wärmer ist, oder: was bewirkt die bleiche Farbe des Eises? Damit löst sie die Zungen der Kinder.

Die Erzieherin tritt nicht als (Allein- oder Besser-) Wissende auf. Sie hält sich auch nicht heraus. Sie trägt aktiv zum Dialog bei, äußert eigene Vermutungen, hört zu, verlangsamt das Ganze, indem sie mitdenkt - auch um sich selbst Zeit zu geben, zu verstehen, was hinter den Hypothesen und Fragen der Kinder steht. Sie signalisiert: Ich weiß etwas und kann etwas beitragen. Was aber ganz genau geschieht, müssen wir gemeinsam herausfinden. Und sie lässt sich darauf ein, scheinbar Selbstverständliches neu zu sehen und wieder neu zu untersuchen.

Fließt das Wasser nun aus dem Eis heraus oder nicht? Bei genauerer Betrachtung könnte das eine durchaus akzeptable Beschreibung des Tauvorgangs sein. Zumindest regt sie zum (gemeinsamen) Nachdenken an.

Wer nicht Recht haben will, hört besser zu

Die Erzieherin in unserem Beispiel nimmt die Perspektive von Daniela und Sebastian ein. Sie betrachtet das Eis mit deren Augen und stellt fest: Die Hypothesen der Kinder sind absolut folgerichtig. Sie entspringen genauen Beobachtungen. Das ermöglicht ihr eine weitere dialogische Haltung. Sie suspendiert ihre eigenen Erklärungen fürs Erste. Sie gibt ihnen sozusagen frei. Sie wirft sie nicht über Bord und hält sie auch nicht aus pädagogischen Gründen zurück, damit die Kinder später "selbst drauf kommen". Sie stehen ihr momentan nur - ganz wörtlich - im Weg. Sie würden ihr den Blick versperren für die subjektive Perspektive der Kinder.

Die Kunst des Suspendierens eigener Annahmen muss besonders dann gepflegt werden, wenn Erwachsene mit Kindern etwas aushandeln. Viel zu schnell, manchmal geradezu explosionsartig, machen sie selbst Vorschläge, überschütten Kinder mit Ideen, beginnen zu argumentieren oder lenken geschickt in die eigene Richtung. Die Sprache der Kinder wird dabei verkürzt, zurechtgestutzt, angepasst. Ihre Überlegungen sind nur gefragt, wenn sie mehr oder weniger zu den eigenen passen. Aber nur wer nicht Recht haben will und sich beeinflussen lassen möchte, kann wirklich zuhören. Und nur wer zuhören kann, lässt andere auch zu Wort kommen.

Das letzte Wort möchte ich Elise Freinet, der Frau des Reformpädagogen Célestin Freinet, geben: "Wenn der Erzieher verstanden hat, dass die Wahrheit des Kindes von der seinen verschieden ist und dass er mit Demut und Einfachheit dieser Wahrheit zum Ausdruck verhelfen kann, dann hat er seine wirkliche soziale Rolle verstanden."

Literatur

Hartkemeyer,M./ Hartkemeyer, J.F./ Dhority, L.F.: Miteinander denken. Das Geheimnis des Dialogs. Stuttgart 1998

Klein, Lothar: Freinet-Pädagogik im Kindergarten. Freiburg 2002

Le Bohec, P./ Le Guillou, M.: Patricks Zeichnungen. Erfahrungen mit der therapeutischen Wirkung des freien Ausdrucks. Bremen 1993

Autor

Lothar Klein
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