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Zitiervorschlag

Müssen, sollen, dürfen wir unsere Kinder einsperren? Schlüsselsituation Festung

Alfred Weinrich

 

Wenn kleine Kinder ausnahmsweise zu Fuß unterwegs sind, dann tappen sie gerne in Pfützen, finden glitzernde Steinchen und andere interessante Dinge auf dem Gehweg, bleiben stehen, wenn ein Nachbar sie anspricht oder ein fremder Passant sie anlächelt und erwidern den Blick, sehen eine Amsel oder ein Eichhörnchen oder eine Ameise, bleiben wieder stehen und schauen ihnen zu und nach, besteigen Treppenstufen oder probieren das Gefälle einer Garageneinfahrt, betasten Zäune und Mülltonnen, bringen Zaunstäbe zum Klingen, machen kleine Turnübungen an der Querstange einer Einfriedung, probieren Autotüren - kurz: Auf für Erwachsene alltäglichen und meist ereignislosen Wegen erfahren sie aufregend Neues, erleben kleine Abenteuer, staunen über die Vielfalt und Lebendigkeit der Welt, halten aber auch inne, bleiben auf Distanz zu fremden Menschen und Hunden, vorsichtig, aber nicht argwöhnisch, und können so auf einem banalen Stück Gehweg eine kleine Entdeckungsreise zurücklegen. Solche Szenen darf man (noch oder wieder?) gelegentlich beobachten in bestimmten Wohngegenden: vergnügte kleine Kinder mit gelassenen und aufmerksamen Müttern.

Spinnen wir die Szene noch ein Stück weiter: Mutter und Kind sind - vielleicht - auf dem Weg zum Kindergarten, zur Krippe, zur Krabbelstube. Das Kind geht offenbar gern dorthin. Dort wird offen gearbeitet. Das heißt, ihm und den anderen Kindern sind alle Räume und Installationen innerhalb der Einrichtung, auch das Außengelände, frei zugänglich. Aber die Eingangstür ist verschlossen. Sie wird nur auf Klingelzeichen geöffnet und ist von innen mit einem Öffner versehen, der für die Kinder nicht erreichbar ist. Niemand denkt sich was dabei. Das heißt, niemand nimmt Anstoß. Alle sind einverstanden, auch die geduldige, aufmerksame Mutter. Auf Nachfragen wird das Absperren zur selbstverständlichen Schutzmaßnahme für die Kinder erklärt, auf die die Eltern großen Wert legten, die aber auch dem pädagogischen Personal die Ausübung der Aufsichtspflicht erleichtere.

Dieser Brauch hat sich über die letzten Jahre sehr verbreitet, ist in Kindergärten fast gang und gäbe geworden. Bei Neueröffnungen scheinen die entsprechenden technischen Vorrichtungen inzwischen zum Standard zu gehören. Handelt es sich wirklich nur um eine technische Maßnahme auf der Grundlage einer Abmachung unter den Erwachsenen, die die Kinder schützt, aber sonst nicht weiter berührt? Manche werden sich erinnern, dass es vor 20, 30 Jahren durchaus noch nicht üblich war, Kindergärten abzuschließen. Und man wird wohl kaum behaupten können, dass der Straßenverkehr damals weniger riskant für kleine Kinder gewesen wäre. Der Unterschied zwischen damals und heute muss auf einer anderen Ebene liegen, und die Absperr-Praxis sollte doch wenigstens zu denken geben. Der Teufel steckt im Detail!

Zur Illustration noch mal eine Straßen-Szene mit Kleinkind, diesmal von damals, aber doch noch irgendwie vertraut: Darin wird das Kind mit festem Griff an der Hand geführt, ständig gewarnt (Pass doch auf! Heb die Füße hoch!), zur Zurückhaltung ermahnt (Lass den fremden Mann, den fremden Hund, das fremde Kind! I gitt, wirf das weg!) und mitgezerrt (Komm jetzt, du machst dich nur schmutzig! Los, wir müssen weiter!). Die Szene scheint wirklich der Vergangenheit anzugehören. Ein Ignorant, wer heute noch Kinder für so ungestüm und unbedacht hält, dass sie in jedes Risiko hineinstürzen, oder gar, dass Gefahren und Schmutz sie magisch anziehen! Wir haben gelernt, die Neugier und den Bewegungsdrang der Kinder zu schätzen. Wir legen großen Wert auf die frühe Förderung von Selbständigkeit und Verantwortlichkeit. Aber einen eigenverantwortlichen Umgang mit dem Straßenverkehr und mit anderen Risiken, den trauen wir den Kindern doch nicht zu, und sei es auch nur in ersten Anfängen und in dem begrenzten Sinn, dass sie auf spontane Ausflüge aus den Räumen oder vom Grundstück des Kindergartens freiwillig und im Einvernehmen mit den Erwachsenen verzichten! Wir sperren sie ein wie Hühner oder Schafe.

Manche werden sich auch noch an bestimmte Kampagnen der 1980er, 1990er Jahre erinnern: Eltern- und Bürgerinitiativen kämpften für Verkehrsberuhigung, für eine kinderfreundliche Gestaltung öffentlicher Räume, bemühten sich um deren Rückeroberung für die Kinder (Spielraum Stadt!) und andere verletzliche Zeitgenossen. Vorbei, verloren und vergessen!

Heute sind kleine Kinder auf Gehwegen zum seltenen Schauspiel geworden, von vielen Passanten mit wohlwollender bis freudiger Anteilnahme beachtet. Ohne Begleitung von Erwachsenen kommen Kinder im Vorschulalter in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr vor. Der Prozess, den die Kindheitsforscherin Helga Zeiher Verinselung der Kindheit genannt hat, d.h. die Beschränkung des Aufenthalts von Kindern auf für sie bereitgestellte und beaufsichtigte Räume, ist für die Vorschulphase abgeschlossen und dehnt sich in die ersten Schuljahre hinein aus. Dass für kleine Kinder die Straße nach wie vor ein interessanter Erfahrungsraum wäre, das ist zwar keine Frage, aber davon reden wir nicht mehr! Also sind es doch wir Erwachsenen, die den Anspruch der Kinder auf die Nutzung öffentlichen Raumes aufgegeben haben!

Mag sein, dass die Vorstellung von der Strasse als "Allmende", als einem Raum öffentlicher Kommunikation, immer schon eine romantische Utopie war. Die "zunehmende Privatisierung des öffentlichen Raumes" (der Kriminologe Roland Hefendehl in der Frankfurter Rundschau vom 19.01.2004) hat mit dem kompletten Rückzug der Kinder einen neuen Stand erreicht. Als Passanten erwünscht sind Konsumenten. Für sie etablieren sich auf den Gehwegen Straßencafés und Biergärten, werden Warenangebote ausgebreitet; am Fahrbahnrand und teilweise auf den Gehwegen selbst können sie ihre Fahrzeuge abstellen - sämtlich private Nutzungen! "Unerwünschte Gruppen haben zu verschwinden, sie schaden dem Konsum" (a.a.O.).

Mit der Allgegenwart wirtschaftlicher Macht im öffentlichen Raum konfrontieren wir uns nicht gern. Sie dringt in unser Bewusstsein nur als ein vages Gefühl diffuser Bedrohung. Vordergründig, so scheint es, sind es der motorisierte Verkehr, Lärm und Abgase, vor allem aber: Kriminalität, denen wir unsere Kinder nicht aussetzen mögen. Aber wir schauen nicht mehr genau hin, wir haben uns schon abgewandt. Aufgegebene Räume, wie etwa gemiedene nächtliche U-Bahn-Stationen, haben die Tendenz, sich mit Gespenstern zu füllen. Vor diesem Hintergrund sehen wir nicht mehr, dass wir eine wichtige kulturelle Errungenschaft der Stadt: den fahrzeugfreien, geräumigen Bürgersteig, von der Fahrbahn durch den Bordstein deutlich abgegrenzt, kampflos aufgegeben haben, dass er allmählich verschwindet. Wir empfinden es fast schon als vermessen und rücksichtslos, wenn uns auf dem verbleibenden Gehwegstreifen zwei Mütter entgegenkommen, die ihre Kinderwagen nebeneinander her schieben!

Was ist das für eine Mentalität, die sich da in uns ausbreitet, und die wir an die Kinder weitergeben? Gut und sicher ist es nur drinnen, im Schutz geschlossener Räume und Areale. Draußen ist Vorsicht geboten, bedroht uns das Fremde, lauert das Böse: Festungsmentalität! Sie versteckt sich in der sauberen technischen Lösung des Absperrens und in der vermeintlich sachlichen Notwendigkeit der Erfahrungseinschränkung zum Schutz der Kinder. Aber diese Einschränkung hat selber auch einen Erfahrungsgehalt. Sie schafft eine Schlüsselsituation, die zu den Kindern in einer lautlosen, aber deutlichen Sprache spricht: Du hast keine Chance hinauszukommen. Denn draußen, im Unvertrauten, bist du schutzlos, verloren, ausgeliefert. Es mag dort noch so spannend sein, erkunden darfst du es nur an der Hand eines Erwachsenen. Den Rest magst du dir ausmalen nach dem, was dir Geschichten und das Fernsehen zeigen. Aber bestimmt gibt es außer den Erwachsenen, die du kennst, draußen kaum jemand, der es gut mit dir meint, der sich verantwortlich verhält. Also, merk dir: Fremd ist gleich böse! Das musst du einfach glauben!

Wenn aber Kindern von klein auf demonstriert wird, dass sie von niemand auf der Welt Verständnis und zugewandtes Verhalten erwarten dürfen als nur von ihren Verwandten, ihren Freunden in der Kindergruppe oder Klasse, ihren Erziehern und Lehrern und vielleicht noch vom Kinderarzt und von der Kassiererin im Supermarkt, wie sollen sie dann selbst ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Verantwortlichkeit für die Welt jenseits dieser Schranken ausbilden? Können sie die Grundformen von Toleranz und demokratischem Bewusstsein entwickeln, wenn sie dazu angehalten werden, Fremdes zu meiden? Wie können sie in sich selber neue, erweiterte Möglichkeiten finden, wenn sie nicht erfahren, dass gerade das Unvertraute, Fremde, Andere ihnen dabei helfen kann? Wie können sie stark werden und lernen, sich zu arrangieren und zu behaupten, ohne solche Erfahrungen?

Mit anderen Worten: Wir müssen bedenken, ob die rein technische Lösung, die die Kinder von der Welt abschottet, ihrem Schutz wirklich dienlich ist! Oder ob der Schutz vor Gefährdungen nicht besser zum Ziel eines Lernprozesses werden sollte, in dessen Verlauf sich jedes einzelne Kind - ähnlich wie beim Impfen - mithilfe von angemessenen Dosen des Mittels Kontakt mit der Außenwelt selbst immunisiert oder stärkt. Die richtige - dem Entwicklungsstand angemessene und individuell verträgliche - Dosierung ist eine Aufgabe der Erwachsenen. Das heißt auch: Nicht nur der Eltern und der unmittelbar mit den Kindern befassten Erzieher/innen!

Immerhin gelten Kindergärten, Krippen usw. noch als öffentliche Einrichtungen. Die Praxis des Absperrens verstellt diese Sicht und erhöht die Schwelle auch nach außen hin, zur Nachbarschaft und zur Gesellschaft. So unterstützt sie die verbreitete Vorstellung, dass Kinder die Privatangelegenheit ihrer Eltern seien, verstärkt die Isolation junger Familien und trägt auch zur Isolierung von Kindertageseinrichtungen bei.

Wie Kindertageseinrichtungen sich nicht nur im Innern, sondern auch nach außen hin öffnen können, das ist erst zuletzt eine technische Frage. Vorher ist es eine pädagogische, für die es, wie immer, keine pauschale Lösung gibt. Als pädagogische Frage ist sie im Kontext der pädagogischen Konzeption zu beantworten, und das sollte praktisch, in der alltäglichen Arbeit geschehen.

Autor

Alfred Weinrich, Fachberatung zur Gestaltung von Spiel-, Lern- und Erfahrungsräumen; Fortbildung, Entwicklung von Raumkonzepten, Planung, Ausführung.

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